Die Schatten der Vergangenheit
wünschst, ich wäre er? Meine Güte, Remington, wenn man deine Gedanken hört, dann ist es, als würde man gleich doppelt um ihn trauern!«
Er klang verletzt, und ich fuhr zusammen. Ich ließ die letzten beiden Wochen Revue passieren. Ich war so mit meiner Trauer um Asher und mit meiner Familie beschäftigt gewesen, dass ich mich gar nicht mehr um meine Abwehr gekümmert hatte. Manchmal hatte ich meinen Schutzwall sogar hinuntergefahren, weil das Summen meiner Energie Gabriel Schmerzen bereitete. Wie ein kleines, in die Enge getriebenes Tier war ich auf Gabriel losgegangen, hatte ihm wehtun wollen, damit ich mich nicht mehr so hilflos fühlte. Hinterher hatte ich mich mehr als einmal dafür geschämt. Und Gabriel hatte nie gezeigt, dass er genau wusste, was ich tat.
Selbst jetzt verbarg er seine Gefühle hinter einer versteinerten Miene, und ich hatte keine Ahnung, woran er dachte.
»Warum hast du zugelassen, dass ich dir wehtue?«, fragte ich verwirrt. »Wieso hast du mir nicht einfach gesagt, dass wir einen Bund eingegangen sind?«
Er spannte den Nacken an, und der Hauch einer Regung huschte über sein Gesicht.
»Gabriel?«
»Lass mal lieber, Remy. Die Antwort könnte dir nicht gefallen.«
Schließlich trafen sich unsere Blicke. Die Leidenschaft, die in seinen Augen loderte, hatte wenig mit Zorn zu tun. Asher hatte mich einst so angesehen. Und zwar gewöhnlich kurz bevor er mich küsste …
»Ich bin nicht Asher, verdammt noch mal!«
Die Enttäuschung in seiner Stimme haute mich um. Zum ersten Mal sah ich ihn an, sah ihn wirklich an. Betrachtete ihn nicht als Ashers Bruder oder einen feindlichen Beschützer und auch nicht als jemanden, der mir in den letzten Wochen zum Freund geworden war. Gabriel mochte wütend sein, aber er hielt mich sanft und fürsorglich. Seine Energie behielt er unter Kontrolle, obwohl er mich hätte töten können. In den letzten Wochen hätte er Dutzende Male Gelegenheit dazu gehabt. So, wie ich meine Abwehr vernachlässigt hatte, hatte ich ihn dazu ja fast schon eingeladen. Eine Einladung, mich zu Asher ins Nirwana zu schicken, als ich genug vom Kämpfen hatte. Aber er hatte mir kein einziges Haar gekrümmt.
Ich hatte gedacht, er würde aus Ergebenheit gegenüber Asher bleiben. Oder um Ashers Tod zu rächen. Aber nicht blutrünstiges Verlangen nach Vergeltung ließ Gabriels Herz unter meiner Hand schneller schlagen. Ich erschauderte. Ich bedeutete Gabriel etwas.
Und das jagte mir eine Heidenangst ein.
»Jepp. Mir auch«, flüsterte Gabriel.
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Etwas an dieser Geste ließ mich aufmerken. Es schien, als würde er einen Lieblingsduft genießen, so wie ich es tat, ehe ich meinen ersten Schluck Kaffee trank. Ungläubig riss ich die Augen auf. Vor Scham röteten sich seine Wangen.
Verdammt.
»Du kannst riechen!«, schnauzte ich.
Gabriels Empfindungsvermögen kehrte zurück. Meine ständige Nähe machte ihn immer sterblicher. Und im Falle eines Angriffs immer verletzlicher.
»Hilf mir, mich zu heilen!«
Nach den Enthüllungen dieser Nacht hatte er wohl eher damit gerechnet, dass ich die Krallen ausfahren würde, anstatt um Hilfe zu bitten. Doch auch wenn es ihn überraschte, trat er sofort in Aktion. Seine Energie fegte über mich hinweg, und ich verdrängte meine chaotischen Gefühle. Ich sah ihn mit neuen Augen. In den letzten Wochen war der Umgang mit ihm einfacher geworden. Wieso hatte ich mich nicht erinnert, dass das mit Asher auch so gelaufen war? Je fester unser Bund geworden war, umso bequemer hatte ich seine Kräfte nutzen können, ganz so, als wären es meine.
Der Heilungsprozess dauerte ewig. Melindas Krankheit war tödlich und hatte sich im ganzen Körper ausgebreitet. Ich nahm sie mir Stück für Stück vor, konzentrierte mich immer nur auf einen Bereich meines Körpers. Eine Stunde später standen mir Schweißtropfen auf der Stirn, und ich wollte aufgeben. Die geschädigten Blutzellen schienen kein Ende zu nehmen. Ich war schließlich auf eine Krankheit getroffen, von der ich nicht genesen konnte.
»Gib auf, und ich schwöre, du wirst mich kennenlernen!«
Gabriel klang aufgebracht, und ich versuchte es mit einem Lächeln. »Du meinst, es hilft, wenn du mir drohst?«
»Das hat noch immer funktioniert!« Mit einem Deckenzipfel tupfte er mir die Stirn ab, und ich sah, wie müde auch er war. »Nachdem du dich gegen Dean und eine ganze Gruppe von Beschützern zur Wehr gesetzt hast, ist das hier doch das reinste
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