Die Schatten der Vergangenheit
geliefert?«
Mein Großvater seufzte. »Die Wahrheit? Als Anführer muss man Entscheidungen treffen. Schwierige, schreckliche Entscheidungen. Letztes Jahr hat uns eine kleine Gruppe von Beschützern ausfindig gemacht, und ich habe getan, was getan werden musste, damit meine Leute in Sicherheit leben können.«
Erin hatte einmal gesagt, dass ein paar Heilerinnen aus der Gegend gestorben waren, und ich erschauerte, als ich begriff, dass Franc dahintergesteckt hatte. »Du hast diese Heilerinnen geopfert.«
»Ein paar, ja, um die vielen anderen zu retten. Es ist besser so. Wir bleiben an einem Ort, unsere Zahl wächst und baldsind wir imstande, die Beschützer zu überwältigen. Früher oder später bringen wir jeden Einzelnen von ihnen um!«
Meine Beine gaben nach, und ich sank auf die Kante der Badewanne. Alles um mich herum sah ich nur noch verschwommen. Das war doch wahnsinnig! Ich musste auflegen. Zwar glaubte ich nicht, dass er den Anruf zurückverfolgen konnte, aber ich durfte kein Risiko eingehen.
»Remy?«
»Wieso erzählst du mir das?«, brachte ich mühsam heraus.
»Wir brauchen dich!«, flehte er. »Du bist anders als die anderen Heilerinnen. Irgendwie hast du dich angeglichen, und wir haben ja gesehen, was das für Auswirkungen auf die Beschützer hat. Dieser eine Junge hat erlebt, wie seine Empfindungen zurückkommen!«
Er meinte Asher, nur, dass Asher mit dieser Information nie und nimmer freiwillig herausgerückt wäre. Was hatten sie getan, um es aus ihm herauszupressen? Mit der Faust erstickte ich ein Schluchzen.
Mein Großvater hatte es mitbekommen. »Nicht weinen, meine Kleine. Dass du nach dem Tod deiner Mutter allein warst und dich gefürchtet hast, ist mir klar. Er und sein Bruder haben dich reingelegt, um in den Genuss deiner Gaben zu kommen.« Wie in den Wochen zuvor bot er Trost an. Alles Lügen. »Dass du sie hergebracht hast, habe ich dir schon längst verziehen. Komm einfach nur heim. Alles wird gut.«
Ich ließ die Faust fallen. »Ich komme nicht zurück. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen, Franc.«
»Tu das nicht«, meinte er mit vor Wut brüchiger Stimme. »Wenn du sie wählst, dann …«
»Ich bin sie.« Ich atmete aus. Keine weiteren Lügen. »Kapierst du’s denn nicht? Mom hatte einen Grund, wieso sie mich versteckt hielt. Lass mich gehen …«, flehte ich.
Ehe er antworten konnte, legte ich auf. Da er nun wusste, wer ich war, würde er vielleicht nicht mehr hinter mir her sein. Nichts sonst hätte ihn überzeugt, dass ich nicht sein Pfand sein wollte. Ich rieb mir die Augen. Ich konnte mich jetzt nicht damit befassen. Später. Vielleicht später, wenn ich mich nicht mehr so fertig fühlte.
In diesem Augenblick befanden sich alle, an denen mir lag, in Sicherheit. Ich brauchte weder Angst zu haben, noch musste ich mich traurig oder verletzt fühlen. Alles war im Lot, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Die nächsten Gefahren lauerten schon, und neue Schmerzen waren vorprogrammiert. Aber einstweilen …
Ich stellte das Handy ganz aus und verließ das Badezimmer.
Ich legte mich neben Asher und erlaubte mir endlich, mich auszuruhen. Nach ein paar Sekunden war ich eingeschlafen.
Ich erwachte aus tiefem Schlaf, weil ich hörte, wie sich eine Tür schloss. Gabriel, dachte ich. Er war losgezogen, um einen Erkundungsgang zu machen. Ich schmiegte mich an Asher und glitt zurück in meine Träume. Warme Lippen drückten einen Kuss auf meinen Mundwinkel und Barthaare kitzelten mich. Noch halb im Schlaf, lächelte ich.
Asher.
Irgendwann in der Nacht hatten wir uns zueinander gedreht. Ich hatte eine Hand auf sein Herz gelegt, und es hatte so schnell geschlagen, dass mir vor Erleichterung ganz schwindelig wurde. Ich brauchte ihn nicht zu scannen, um zu wissen, dass er sich erholen würde. Ich schlug die Augen auf und begegnete Ashers feierlichem Blick.
Wir sahen einander an.
Die Sonne war aufgegangen, und ihr sanftes Licht tanzte auf Ashers Haut. Wochenlang hatte ich nur an ihn gedacht und von ihm geträumt. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass er noch am Leben sei, dass es zu einem beständigen Schmerz geworden war, zu einer klaffenden Wunde, die ich mit mir herumgeschleppt hatte. Das Wissen um die Unmöglichkeit, ihn je wiederzusehen, hatte mich verändert.
Jetzt, wo ich neben ihm lag, veränderte ich mich wieder.
Asher strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und legte mir seine Hand an den Hals.
»Sie haben mir gesagt, du wärst tot.« Seine Stimme war rau wie
Weitere Kostenlose Bücher