Die Schatten der Vergangenheit
Seifenduft. Der Gestank, der ihn umgeben hatte, war verschwunden. Dann legte ich meine Hände auf Ashers Herz.
Diesmal ließ ich mir bei der Bestandsaufnahme Zeit, fahndete nach jeder einzelnen Verletzung. Dutzende vonBlutergüssen. Genauso viele Abschürfungen oder Schnittverletzungen. Der Grind auf seinem Kopf, wo die Kugel sein Gehirn um einen Millimeter verpasst hatte. Eine geplatzte Lippe und ein blaues Auge, das zugeschwollen war. Eine gebrochene Nase und ein gebrochener Wangenknochen. Zwei gebrochene Rippen in Verbindung mit einem Bluterguss in der Form eines Stiefels. Ein gebrochenes rechtes Fußgelenk und ein gebrochenes linkes Armgelenk. Eine verrenkte Kniescheibe. Und, um das Maß voll zu machen, ein geplatztes Trommelfell. Unvorstellbar, was für Schmerzen er hatte aushalten müssen.
Als Gabriel in meinen Gedanken die Liste an Verletzungen hörte, stieß er einen Fluch aus, und das hätte ich am liebsten auch getan, riss mich aber mit aller Macht zusammen. Wenn ich wieder zu weinen begonnen hätte, hätte ich nicht mehr aufhören können. Ich schluckte und dachte an die bevorstehenden Schmerzen. Aber ich würde sie übernehmen. Ich würde jede Wunde und noch hundert weitere übernehmen, wenn ich Asher dafür nur wieder wohlbehalten und gesund an meiner Seite hatte. Ich beugte mich über ihn und gab ihm einen Kuss.
Ich liebe dich, Asher. Es wird Zeit, dass du zu mir zurückkommst. Ich brauche dich.
Gabriel legte eine Hand auf meine, und ich blickte auf. Er hatte die Mundwinkel nach unten gezogen, und ich wusste, er hatte meine Gedanken gehört. Unsicher, was ich sagen sollte, machte ich den Mund auf, aber Gabriel kam mir zuvor.
»Wir machen das Stück für Stück. Jeweils ein oder zwei Verletzungen, dann heilen wir dich und ruhen ein bisschen aus. Großartige Gesten bringen ihm gar nichts.«
Ich wollte protestieren, konnte aber nicht. »Du hast recht«, räumte ich ein. »Natürlich, du hast recht.«
Ich nickte und Gabriel ließ mich los.
Ich schob meine Ängste beiseite, wählte eine Verletzung – das geplatzte Trommelfell – und schickte meine Energie spiralförmig zu Asher aus.
»Wir müssen aufhören«, erklärte ich Gabriel zähneklappernd.
Dreizehn Stunden. Es hatte dreizehn Stunden gedauert, um Asher von seinen schlimmsten Verletzungen zu befreien. Ein paar Blutergüsse und Schnittwunden waren noch übrig, aber ich konnte nicht mehr. Der Schmerz kam und schwand in Wellen, während ich die Wunden aufnahm und sie heilte. Ich war am Ende meiner Kraft. Und Gabriel …
Einmal wäre er beinahe umgekippt, so geschwächt war er davon gewesen, mir seine Energie zu leihen. Als ich jetzt darum bat, eine Pause einzulegen, protestierte er nicht. Das sagte mir mehr, als alle Worte es hätten tun können. Vermutlich hätten wir schon vor einer Stunde früher unterbrechen sollen.
Asher war noch immer nicht aufgewacht, aber ich konnte weder eine Hirnverletzung noch ein Trauma entdecken. Ich spürte, dass sein Schlaf mehr mit Erschöpfung zu tun hatte, und sagte mir, dass es das Wichtigste war, dass er sich ausruhte.
»Gabriel?« Er schwankte und die Augen fielen ihm zu. »Es reicht erst mal. Versuche, zu schlafen.«
Er nickte und ließ sich auf das Bett gegenüber fallen. Sein Kopf hatte das Kissen kaum berührt, da schlief er auch schon. Beide Brüder schnarchten leise, und aus irgendeinem Grund wurde ich plötzlich von meinen Gefühlen übermannt.
Ich schnappte mir Gabriels Handy, schlich ins Badezimmerund schloss die Tür hinter mir. Es gab da etwas, das ich tun musste und das nicht länger aufgeschoben werden durfte. Ich gab die Nummer ein und eine gedämpfte Stimme meldete sich.
»Erin, bist du’s? Ich bin’s, Remy!«
Sie antwortete nicht, aber ich konnte sie atmen hören.
»Ich weiß nicht, was sie dir erzählt haben, aber du musst vorsichtig sein. Franc und Alcais arbeiten mit den Beschützern zusammen. Sie …«
»Das glaubst du doch nicht im Ernst! Dass ich mit denjenigen zusammenarbeite, die meine Frau umgebracht haben?«
Als ich am anderen Ende der Leitung die gequälte Stimme meines Großvaters hörte, hätte ich vor Schreck beinahe das Telefon fallen lassen. Er hatte geahnt, dass ich Erin anrufen würde, um sie zu warnen. Wenn er dachte, er könnte mich mit neuen Lügen austricksen, dann musste er komplett verrückt sein. Ich machte Anstalten aufzulegen, aber irgendetwas hielt mich davon ab.
»Wenn du sie so hasst, wieso hast du ihnen dann Yvette ans Messer
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