Die Schatten der Vergangenheit
wie sie bei meinem Anblick reagieren würden. In jedem wiesen sie mich ab. Ich konnte ihnen die Wahrheit über meinen Großvater oder meine Erlebnisse nicht erzählen. Und jede unnütze Lüge anstelle der Wahrheit machte alles nur noch schlimmer. Ich befand mich in einer aussichtslosen Situation.
Dann erreichten wir die Stadt. Blackwell Falls war mir ans Herz gewachsen. Wieder hier zu sein, dämpfte ein wenig den Schmerz, den das Weggehen in mir verursacht hatte. Ich hatte gedacht, ich würde die Wälder und Meeresklippen nie mehr wiedersehen. Ich ließ das Fenster herunter und atmete tiefdurch. Nie hatte die salzige Luft auf meiner Zunge besser geschmeckt.
Sie roch nach zu Hause. In Blackwell Falls war ich geliebt worden. Hier hatte ich Asher kennengelernt. Ich hatte eine Familie gehabt und einen Ort, an den ich gehörte, aber von alldem hatte ich mich abgewandt. Um sie vor Unheil zu bewahren, ja, aber würden sie das gelten lassen?
Unser Plan sah so aus, dass sie mich bei mir zu Hause absetzen und dann heim zu Lottie fahren würden. Mein Gepäck würden sie tags darauf vorbeibringen. Meine Familie würde bei meiner Heimkehr auf das Beisein der Blackwells vermutlich nicht unbedingt Wert legen. Und Asher sah nach dem Flug sehr erschöpft aus.
Schließlich bogen wir zum Haus meines Vaters ein, und ich starrte auf das Cottage. Hier hatte ich gelebt. Ich wollte zur Haustür laufen, aufsperren und allen zurufen, dass ich wieder da sei. Würden sie mich denn wollen?
»Remy?«, fragte Asher.
Ich begegnete seinem Blick im Rückspiegel.
»Sie werden wütend und verletzt sein, aber zweifle nie daran, dass sie dich wollen!«
Gabriel war weniger freundlich. »Jetzt steig schon aus. Die Angst vor einer Sache ist meistens schlimmer als die Sache selbst!«
Ich klopfte an die Haustür, aber niemand machte auf. Hätte ich darauf geachtet, dann wäre mir aufgefallen, dass keine Autosin der Einfahrt standen. Es war mitten am Tag, was hieß, dass mein Vater höchstwahrscheinlich bei der Arbeit war. Laura und Lucy konnten überall sein. Ich stand eine Minute auf der Eingangsterrasse, kam mir dumm vor und bereute es, dass ich Asher und Gabriel einfach weitergeschickt hatte. Was nun?
Ich zuckte die Achseln und schloss mit meinem Hausschlüssel auf.
»Hallo?«
Meine Stimme hallte wider, ohne eine Reaktion hervorzurufen. Ich war allein. Ich schlenderte von Raum zu Raum, ein Eindringling in einem Haus, in das ich gehörte und auch wieder nicht. Seitdem mein Vater mich hierhergebracht hatte, hatte ich mich verändert. Das Mädchen, das mit Dean gekämpft hatte, um Lucy zu retten, war ich nicht mehr. Vielleicht passte ich nicht mehr hierher.
Ich ging die Treppe hinauf und stand sofort vor meinem Zimmer. Ich hatte Angst, die Tür zu öffnen. Hatten sie meine Sachen zusammengepackt und das Zimmer in ein Büro umgewandelt? In ein Gästezimmer? Zögernd ging ich hin und drückte die Klinke nach unten.
Nichts war verändert worden. Papierkram, Zeitschriften, Make-up, Klamotten … alles lag noch genauso herum, wie ich es an dem Tag, an dem sie mich zum Flughafen gefahren hatten, hinterlassen hatte.
Meine Familie hatte mein Zimmer in Erwartung meiner Rückkehr unberührt gelassen.
Ich trat ans Bett. Noch immer roch es nach dem Lavendelduft, den Laura beim Spülgang hinzugab, wenn sie die Bettwäsche wusch, und ich konnte einfach nicht anders, ich schlüpfte aus den Schuhen und glitt zwischen die Laken. Ich legte den Kopf aufs Kissen und mir wurden die Lider schwer.Das Sonnenlicht, das von draußen hereindrang, tauchte alles in ein warmes und vertrautes Licht, das mich hypnotisierte. Ich war zu Hause.
Zusammengekringelt wachte ich in völliger Dunkelheit auf. Auf der Stelle befand ich mich wieder in dem Raum, wo ich Asher hatte sterben sehen und dann auf den eigenen Tod gewartet hatte. Etwas berührte mich, und ich wurde starr vor Schreck, als ich leise Atemzüge hörte. Jemand lag neben mir im Bett. Eine Hand berührte mein Haar.
»Schscht, Remy.«
Ich reagierte zuerst mit Flucht- oder Kampfgedanken und hätte Lucy beinahe einen Kinnhaken versetzt. Dann ließ ich mich zurück aufs Bett fallen und versuchte, trotz des Adrenalins, das durch meinen Körper schoss, halbwegs ruhig zu atmen.
Wieder berührte Lucy mich am Haar, diesmal vorsichtiger. »Ich wollte dir keine Angst einjagen. Du hattest nur einen Albtraum.«
»Wie viel Uhr ist es?«
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, aber ich konnte ihre Gesichtszüge nicht
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