Die Schatten der Vergangenheit
erkennen. Mit einem Klick ließ sie etwas zwischen uns aufs Bett fallen. Das Display ihres Handys leuchtete auf, und ich konnte sie endlich sehen.
»3:24 Uhr«, sagte sie.
Ich drehte mich zu ihr um, und sie drückte auf eine Taste, die ihr Handy in eine Taschenlampe verwandelte. Sie zog die Decke über unsere Köpfe und schuf dadurch einen Kokon, in dem nur wir zwei existierten.
»Hey, Sis«, sagte sie. »Ich hab dich vermisst!«
Und mehr brauchte es nicht, um die Schleusen zu öffnen. Ich weinte, und wir sahen einander an.
»Hab nicht geglaubt, dass ich dich noch mal wiedersehe«, gestand ich. »Es tut mir so leid, Luce. Du musst mich hassen.«
»Darf ich dich was fragen?«
Ich nickte und wischte mir die laufende Nase wie ein Kind mit dem Ärmel ab.
»Bist du weggegangen, damit uns nichts passiert?«
Wieder nickte ich. Ich öffnete den Mund, um ihr davon zu erzählen, aber der Gedanke an alles, was geschehen war, machte mich sprachlos.
»War es schlimm?«, fragte sie beunruhigt.
»Schlimmer geht’s nicht.«
Meine Stimme versagte. Lucy benutzte den Ärmel ihres Schlafanzugs, um meine Tränen zu trocknen. Mir entging nicht, dass sich unsere Rollen vertauscht hatten und sie nun diejenige war, die tröstete. Ich war also nicht die Einzige, die sich in den letzten Monaten verändert hatte.
»Dann reden wir darüber, wenn du bereit bist. In der Zwischenzeit … könnte ich dir ja erzählen, was du hier alles so verpasst hast …?«
Ich nickte begierig, und sie legte flüsternd los. Darüber, wie sie und unsere Eltern damit fertig geworden waren, dass ich sie verlassen hatte, schwieg sie sich aus. Wenn sie mir deshalb Vorwürfe machte, so verbarg sie das gut. Stattdessen erzählte meine Schwester mir von unseren Freunden, unserer Stadt, Lauras neuem Hobby (sie nahm Flötenunterricht) und Dads altem Hobby (er werkelte in der Garage an den Autos herum, um ihren Flötenspielübungen zu entgehen). Der Akku des Handys leerte sich, die Sonne ging auf und schließlich hörten wir, dass unsere Eltern wach waren und nach unten gingen.
»Wissen sie, dass ich hier bin?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Nö. Gabriel hat angerufen, sonst hätte ich’s auch nicht gewusst. Du und Gabriel, seid ihr jetzt Freunde? Er klang besorgt.«
»Komplizierte Geschichte …«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ich belasse es jetzt mal dabei, weil wir Mom und Dad erzählen müssen, dass du da bist, aber glaube ja nicht, dass ich da nicht noch mal nachhake. Ich weiß genau, wann ich eine gute Story zu hören kriege!«
Ich gluckste, denn das klang so ganz nach der Schwester, die ich kannte, und die nur darauf aus war, Klatsch aus mir herauszupressen. »Verstanden.«
Wir gingen nacheinander ins Bad, und dann folgte ich ihr die Treppe hinunter in die Küche, bemüht, meine Nerven in Schach zu halten. Lucy hatte mir keinerlei Tipps gegeben, was mich erwartete. Meinen Vater sah ich nicht, aber Laura stand in Morgenmantel und Hausschuhen vor der Kaffeemaschine und schien diese mal wieder per Willenskraft zur schnelleren Kaffeeproduktion antreiben zu wollen. Mir traten Tränen in die Augen. Sie hatte mich aufgenommen, als wäre ich ihre eigene Tochter. Ob sie mich inzwischen wohl für undankbar hielt?
»Mom«, sagte ich.
»Guten Morgen. Kaffee ist fertig.« Sie schenkte sich einen Kaffee ein und blickte gar nicht auf. »Schon so früh wach?«, fragte sie, während sie sich mit ihrer Tasse umdrehte. Bei meinem Anblick erstarrte sie, und die heiße Flüssigkeit spritzte gefährlich aus der Tasse, als sie aufkreischte.
Lucy schnappte sich die Tasse, bevor sie alles ausgeschüttet hätte, und dann drückte mich Laura auch schon an sich. Sie umarmte mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam, aber das war mir egal. Ihr Empfang übertraf alles, was ich mir erträumt hatte. Sie löste sich von mir, um mich anzuschauen,weinte und lächelte gleichzeitig. Mit dem Gefühl, erwünscht zu sein, lächelte ich zurück.
Dann erlosch ihr Lächeln und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Remy O’Malley, wo zum Teufel hast du gesteckt? Hast du eigentlich eine Ahnung, was wir deinetwegen durchgemacht haben?« Sie hob meine Hand und besah sie sich. »Gebrochen sind deine Finger ja nun nicht. Und damit gibt’s auch keine Entschuldigung mehr, wieso du nicht ein einziges Mal angerufen hast, um uns zu sagen, dass du lebst!«
Noch nie hatte ich meine Stiefmutter so zornig erlebt. Sie ließ eine Tirade vom Stapel, dass die Luft knisterte. Sie drohte mir mit
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