Die Schatten der Vergangenheit
hingezogen gefühlt, so, als wäre er ein Bindeglied, das mich mit den wenigen guten Dingen verband, an die ich mich hinsichtlich meines alten Zuhauses erinnerte. Das hieß allerdings nicht, dass ich meine Geheimnisse mit ihm teilen konnte. Zu seinem und zu meinem Besten nicht.
Ich schubste meine übergroße Handtasche von dem freien Stuhl gegenüber, sodass er sich hinsetzen konnte, und fächerte mir mit der Plastikspeisekarte wieder Luft zu. Was nur hatte ich in seiner Gegenwart gesagt oder getan? Vage erinnerte ich mich, dass mich Asher von ihm abgeschirmt hatte, als ich wieder zu mir gekommen war. Jede Wette also, dass er ahnungslos war. »Ja, geht schon wieder. Bin mir nicht sicher, was gestern Abend eigentlich los war.«
Statt Kaffee schlürfte er wie üblich grünen Tee und musterte mich mit ruhigem Blick. Es amüsierte mich, dass er wie ein Rebell aussah und sich wie ein Gutmensch benahm.
»Echt nicht? Ich hätte da so eine Vermutung!«
Meine innere Sirene heulte auf. Brandon liebte es, mich aufzuziehen. Wegen meiner rauen Stimme, meiner schlechten Essgewohnheiten und meines öden Musikgeschmacks. Er hatte es zur Kunstform erhoben, nichts unversucht zu lassen, um mich zum Lachen zu bringen. Meistens, indem er michgnadenlos anbaggerte, selbst wenn Asher dabeisaß. Dieser Brandon hier war anders. Das war Brandon, der Ernsthafte.
»Spar dir deine Vermutungen! Ich hatte einen Aussetzer. Er ging vorbei«, winkte ich ab, aber Brandon wandte seinen Blick nicht von mir ab.
»Du hattest keinen Aussetzer. Ich weiß, wie’s aussieht, wenn jemand high ist. Ich bin doch nicht blöd, Remy!«
Wusste er, wozu ich fähig war? Vor Monaten hatte ich Brandon geheilt, als er mir Schwimmunterricht gegeben hatte und dabei fast ertrunken wäre. Er war mit dem Kopf am Beckenrand aufgeschlagen und hatte dabei das Bewusstsein verloren. Ich hatte seine Kopfverletzung geheilt, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte. Es war meine Schuld gewesen, dass er überhaupt ins Wasser gestürzt war. Ein Versehen, ja, aber ein Beweis dafür, dass sich alle in meiner Nähe in ständiger Gefahr befanden. Asher, Lucy, Ashers Geschwister. Alle hatten sie wegen mir irgendwie draufgezahlt. Das konnte ich Brandon nicht noch mal antun.
»Du kennst meine Geschichte. Du weißt, ich würde nichts nehmen.« Dafür hatten Deans Saufgelage und grausamen Fäuste gesorgt.
»Ich weiß.«
Sein leiser Ton machte mir Angst, und ich wischte mir unter dem Tisch am Rock den Schweiß von den Händen. »Worauf willst du hinaus, Brand?«
Er trank noch einen Schluck Tee und sah mich ernst an. »Ich sage, ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Was da wäre?«
»Marina. Kurz davor, an einer Überdosis zu krepieren. Und dann doch nicht. Remy – nüchtern. Und dann plötzlich nicht mehr.«
»Ich wurde also mittels Osmose in einen Rauschzustandversetzt? Das ist doch totaler Quatsch!« Ich lachte, aber selbst in meinen eigenen Ohren klang es gezwungen.
Er setzte sich hastig vor und berührte sanft meinen Arm. Meine Energie summte, und ich scannte ihn aus purer Gewohnheit. Gesund. »Remy, erzähl mir, was los ist. Vertrau mir!«
Asher hatte einmal dasselbe gesagt. Ich hatte nachgegeben, und er wäre bei dem Versuch, mich zu beschützen, beinahe draufgegangen, obwohl er ein Beschützer war. Ohne besondere Fähigkeiten hatte Brandon nicht die geringste Chance.
Ich sprang auf, stieß seine Hand fort und schnauzte: »Mensch, Brand! Mir war übel. Ich bin gegangen. Aus, basta!« Ich mied seinen Blick und griff nach meiner Tasche.
»Du weißt, dass mir viel an dir liegt, oder?«
Bei seinem besorgten Tonfall sah ich auf und antwortete dann milder.
»Natürlich weiß ich das. Aber es gibt nichts zu erzählen. Ich schwöre es!«
Die Lüge ging mir leichter von den Lippen, als ich es mir eingestehen wollte. Eines Tages würde ich an den vielen Lügen noch ersticken. Mit einem Lächeln, das ihn beruhigen sollte, gab ich Brandon zwei Wangenküsschen und verließ das Café.
Ich wollte nicht ins Haus hineingehen.
Ich parkte davor und betrachtete das Cottage im neuenglischen Stil. Gleißendes Sonnenlicht ließ die in den Fenstern hängenden Buntglasstücke erglühen. Laura, meine Stiefmutter, liebte es, bei Spaziergängen am Strand, dersich am Rand des Bootshafens bogenförmig erstreckte, abgeschliffene Glasstücke zu sammeln. Ich liebte unser Haus. Ich liebte die Wälder darum herum und das Strandgras, das sich in der salzigen Luft bog, wenn der Wind durch den Sand
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