Die Schatten der Vergangenheit
auf dich sein, aber dann zückst du deine Lucy-ich-liebe-ihn-Karte. Total unfair!«
»Tut mir leid«, schniefte ich.
Sie stupste mich an der Schulter. »Nein, tut’s dir nicht. Hast du denn keine Angst?«
»Und wie!«, flüsterte ich. Es stimmte.
Mir war gar nicht klar gewesen, wie sehr, bis sie es mich gefragt hatte. Wieder wäre ich auf mich selbst gestellt.
»Gut«, sagte sie fester. »Du bist auf der Hut.«
In dieser Nacht machte sie keine Anstalten, zurück ins eigene Zimmer zu gehen. Stattdessen redeten wir über alles,bloß nicht über meine Abreise. Meine Schwester wollte mich von meiner Angst ablenken. Es klappte zwar nicht, aber für ihre Versuche liebte ich sie umso mehr.
Asher kam nicht, um sich zu verabschieden.
Ben und Laura beharrten beide darauf, mich zum Flughafen zu bringen. Zum Glück kamen sie nicht auf den Gedanken, sich mein Ticket anzusehen, denn sonst hätten sie gemerkt, dass ich – mit meinen mageren Ersparnissen – einen Verbindungsflug nach New York gebucht hatte. Ich wollte nicht erklären müssen, wieso mein Großvater nicht wissen sollte, wo und bei wem ich wohnte.
Lucy blieb daheim, und ich war froh, dass ich mich wenigstens von ihr in einem privaten Rahmen verabschieden konnte. Beide weinten wir, und mir fiel auf, dass wir alle so taten, als käme ich nicht wieder. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen für das, was kommen sollte.
Am Flughafen umarmte ich meine Eltern und nahm ihre Warnungen und letzten Ratschläge entgegen. Ganz oben auf Lauras Liste stand dabei, ich dürfte nicht mit Fremden sprechen, gefolgt von der Aufforderung, mich oft bei ihnen zu melden.
»Ich verspreche, sofort laut um Hilfe zu schreien, wenn mir ein böser Onkel zu nahe kommt«, sagte ich mit unbewegter Miene.
Mein Vater grinste mich über Lauras Kopf hinweg an und tat so, als gäbe er mir einen Kinnhaken. »Braves Mädchen!« Er wandte sich an meine Stiefmutter. »Hab dir doch gesagt, der Sarkasmus würde noch kommen. DiesesIch-bin-doch-eine-anständige-Tochter-Gesäusel konnte nicht von Dauer sein.«
Laura schmunzelte. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm!«
Wenn sie nur gewusst hätte.
Schließlich ging ich durch die Sicherheitsschranke, winkte ihnen noch ein letztes Mal zu und machte mich zu meinem Gate auf. Als ich dann auf einem Plastikstuhl saß, bei dessen Entwurf man sich Inspiration bei Folterwerkzeugen geholt haben musste, konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich wütend oder traurig darüber war, dass Asher mich sitzen lassen hatte. War es ein Abschied für immer? Seine Art, mit mir Schluss zu machen? Was für ein Feigling! Okay, was auch immer. Schließlich gewann meine Wut die Oberhand über mein Gekränktsein, und diese Wut fühlte sich gut an.
Als der Aufruf kam, an Bord zu gehen, folgte ich einer vierköpfigen Familie ins Flugzeug. Nachdem ich meine Tasche verstaut hatte, rutschte ich auf einen Fensterplatz und schloss die Augen, damit ich meine Ruhe hatte. Jemand nestelte an seinen Sicherheitsgurten herum, nachdem er sich auf den Gangplatz gesetzt hatte, und zu meiner großen Erleichterung blieb der Platz in der Mitte frei. So versuchte schon keiner, mit mir ins Gespräch zu kommen. Lange Minuten darauf hob das Flugzeug ab, und wir waren endlich in der Luft.
Da verflog auch meine Wut, und es traf mich mit voller Wucht. Asher hatte sich wirklich von mir abgewandt. Ich konnte es nicht fassen.
Was, wenn ich alles vermasselt hatte? Ich drehte mich zum Fenster, um zu verbergen, dass ich in einem Flugzeug voller Fremder einen Heulkrampf bekam, und ich wünschte, ich hätte die Tränen niemals wiederentdeckt. Ich fühlte mich deswegen kein verdammtes bisschen besser! Nichts und niemandwürde mich trösten können, wenn Asher aufgehört hatte, mich zu lieben.
»Niemals!«, sagte da eine Stimme.
Ich wirbelte herum, und Asher lächelte mich vom übernächsten Sitzplatz aus an.
»Kennst du mich denn immer noch nicht?«, fragte Asher.
Freude und Überraschung kämpften in mir, und er brauchte mich nicht zu berühren, um meine Gedanken hören zu können. Asher löste seinen Gurt und drückte die Armlehnen zwischen uns hoch. Dann rutschte er zu mir herüber und zog mich an sich. Die weiche Baumwolle seines T - Shirts rieb an meiner Nase, als ich ihn umarmte.
Ich legte den Kopf zurück. »Asher, was machst du hier? Ich freue mich ja ganz wahnsinnig, aber ich kapier’s nicht.«
Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. »Ganz einfach. Ich begleite
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