Die Schatten der Vergangenheit
bist Remy, ansonsten wäre mir das jetzt hier sehr peinlich.«
Mein Großvater legte eine Hand auf meinen Rücken und lotste mich von der Rolltreppe weg, damit die anderen an uns vorbeikamen. Seine raue Stimme passte zu ihm, und die Wärme darin half mir, mich ein wenig zu entspannen.
Ich lächelte. »Ich bin Remy!«
»Na dann.« Er schnalzte mit der Zunge, streckte die Arme aus und bedeutete mir, mich zu drehen. »Lass dich anschauen, mein Kind!«
Ich drehte mich um die eigene Achse. »Zufrieden?«
Er verschränkte die Arme und tat so, als überlegte er, aber ich konnte sehen, dass seine Augen vor Vergnügen blitzten.
»Viel zu dünn! Leider wird sich daran unter meinem Dach auch nichts ändern. Ich bin ein lausiger Koch. Aber ansonsten, ja, zufrieden, kann man so sagen!«
Ich wartete und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf. Er zog fragend eine Augenbraue hoch, und ich machte mit dem Finger eine kreisende Handbewegung in der Luft.
»Sieht ganz so aus, als würdest du nach deiner Mutter kommen«, brummelte mein Großvater, drehte sich aber genauso im Kreis wie ich zuvor. »Zufrieden?«
Ich zuckte die Achseln. »Abgesehen von deinen haarsträubenden Kochqualitäten? Wir werden essen gehen müssen.«
Wir standen da und grinsten einander an wie die Idioten. Und ich merkte, dass mir mein Großvater richtig gut gefiel.
Er musste in den Sechzigern sein, aber bis auf seine schlohweiße Mähne wäre man nie darauf gekommen. Er wollte partout nicht, dass ich ihm beim Tragen des Gepäcks half, und hob es ohne Probleme hoch. Auch wenn ich persönlich kaum alte Leute kannte, hielt ich sie im Allgemeinen doch eher für griesgrämig. François Marché dagegen lachte viel, manchmal so schallend, dass ich automatisch mitlachen musste.
Die kurze Fahrt vom Flughafen in die Stadt verlief schnell und ganz ohne den angestrengten Small Talk, mit dem ich gerechnet hatte. Stattdessen schien er vor Neugierde fast zu platzen und bestürmte mich mit Fragen. Er erkundigte sich auch nach den Freunden, bei denen ich seit Moms Tod wohnte. Darauf war ich vorbereitet, denn ich hatte meine Antworten mit Asher einstudiert.
Hier und da wies er mich auf die Sehenswürdigkeiten hin, an denen wir vorbeikamen. Die Bay Bridge, die nach Oakland führte. Das Rathaus, das mit den goldenen Verzierungen aussah, als wäre es einer Ansichtskarte aus Paris entsprungen. Die orangerote Golden Gate Bridge, die am Tor zum Ozean stand.
Ich hatte Fotos von San Francisco gesehen, aber die Realität übertraf all meine Erwartungen. Zwischen Gebäuden blitzte am Horizont immer wieder graublaues Wasser auf, und der Truck meines Großvaters erklomm Hügel für Hügel, nur um auf der anderen Seite wieder hinunterzufahren. Die Stadt schien nur aus Bergen und Tälern zu bestehen, ohne dass irgendwo eine gerade Oberfläche zu finden gewesen wäre.
Ich hatte den Großteil meines Lebens in New York verbracht, aber wo dieses sich ganz der Stahl- und Betonindustrie verschrieben zu haben schien, hatte San Francisco es irgendwie geschafft, der Natur zwischen den Gebäuden noch Raum zu lassen. Als wir durch das große Tor ins Presidio fuhren, beäugte ich die dort aufgestellte Kanone.
»Die steht nur zur Zierde da«, erklärte mein Großvater. »Das Presidio war ein militärischer Stützpunkt, ehe es aufgegeben und in einen Nationalpark umgewandelt wurde. Inzwischen sind die Unterkünfte der Soldaten in Privathäuser und Büros umgestaltet worden.«
»Und hier wohnst du?«, fragte ich. Eukalyptusbäume und Pinien wuchsen auf den nahe gelegenen Hügeln, die über akkuraten Reihen mit hübschen Schindelhäusern thronten.
»Japp. Es ist, als würde man mitten im Wald wohnen. Und doch hat man alle Vorteile einer Stadt gleich um die Ecke.«
Ein paar Minuten fuhren wir gewundene Straßen entlang, bis wir eines dieser zweigeschossigen weißen Holzhäuser mit roten Dachziegeln erreichten.
Mein Großvater parkte den Truck am Straßenrand. »Home, sweet home. Da wären wir!«
Er hievte meine Taschen von der Ladefläche, als wären sie mit Federn gefüllt, und ich folgte ihm die Treppe hinauf auf die Veranda. Warmes Licht erfüllte das Haus. Das war mein erster Eindruck, als er die Haustür öffnete. Auf den Holzböden lagen bunte Webteppiche. Den Großteil des Wohnzimmers nahm eine für einen Riesen gebaute braune Ledercouch ein. An den Wänden hingen ein paar wenige Bilder, und alles schrie förmlich danach, dass hier ein alleinstehender Mann wohnte.
Mein Großvater
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