Die Schatten des Mars
Fremde das wissen?
Sein Gegenüber wiegte bedächtig den Kopf, blieb aber stumm. Der Junge nutzte die Gelegenheit, um den Fremden näher in Augenschein zu nehmen. Er schien um die sechzig Jahre alt zu sein und wirkte trotz seines Alters beweglich und durchtrainiert. Ungewöhnlich war der graue Schimmer seiner Haut und die Tatsache, daß ihm die Kälte nichts auszumachen schien. Die Temperatur lag kaum über dem Gefrierpunkt, und doch trug der Fremde nur ein kurzärmliges Hemd und offensichtlich ungefütterte Hosen. Seine Gesichtshaut wies eine Vielzahl feiner Fältchen auf, die jedoch nur um die Augen herum und in den Mundwinkeln stärker auffielen. Ein wenig ähnelte er dem alten Bassejew, nur daß seine Augen wesentlich lebendiger erschienen als die des Clanführers.
Der Grauhaarige ließ die Musterung mit einem Lächeln über sich ergehen, bevor er nachdenklich fortfuhr: »Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich fürchte, du hast den weiten Weg umsonst auf dich genommen. Weißt du, wie wir die Felsformation da oben nennen?« Seine Hand deutete auf das steinerne Δ, das im klaren Licht der hochstehenden Sonne kupferfarben schimmerte. Er wartete die Antwort des Junge nicht ab. »›Tor der Schmerzen‹ – und ich kann dir versichern, daß der Name zutrifft. Niemand kommt dort durch, und es bildet den einzigen Zugang zum Fluß.«
»Ich weiß«, sagte Arif und lächelte. Dann richtete er sich vorsichtig auf und ignorierte das flaue Gefühl in seinem Magen. »Danke für den Verband. Aber ich muß jetzt weiter.«
Der Fremde lächelte nicht zurück, aber er überraschte den Jungen ein weiteres Mal, als er ihm die Waffe und den offensichtlich unberührten Rucksack reichte und scheinbar zusammenhanglos bemerkte: »Es ist schlimmer geworden.«
»Was?« erkundigte sich Arif verwirrt.
»Dort, wo du herkommst.«
Der Junge sah den Fremden verständnislos an. Was wu ß ten die Leute hier schon vom Krieg? Er spürte ein Brennen in der Kehle und wußte, daß er schnell gehen mußte, bevor ihn der Mut verließ.
»Ja«, sagte er heiser, schulterte den Rucksack und hoffte, daß das Zittern seiner Knie ihn nicht verraten würde. »Leben Sie wohl.«
»Auf Wiedersehen«, sagte der Mann und scheuchte die gelbäugigen Hunde, die aufgesprungen waren, mit einer Handbewegung zurück. »Viel Glück!«
Der Junge drehte sich noch einmal um und winkte dem Grauhaarigen mit einer hilflos wirkenden Abschiedsgeste zu. Dann fiel das Lächeln von seinem Gesicht; er brauchte seine Kraft für den Aufstieg, und vor den Felsen mußte er sich nicht verstellen.
Der Mann schaute der rasch kleiner werdenden Gestalt nach, bis sie nur noch ein winziger dunkler Punkt zwischen den geröllübersäten Hängen des Vorgebirges war.
Er hatte nicht die volle Wahrheit gesagt, als er vom Tor der Schmerzen gesprochen hatte, aber das würde der Junge bald selbst herausfinden. Wenn er noch die Kraft dazu hatte. Martin waren die entzündeten Hautpartien und der fiebrige Glanz in den Augen des Jungen keineswegs verborgen geblieben. Er war ohne Zweifel schwerkrank. Noch ein paar Tage, dann würden sich Durchfälle und Erbrechen einstellen – der Anfang vom Ende. Wenn kein Wunder geschah.
Martin Lundgren seufzte. Ursprünglich hatte er geplant, sich am Nachmittag auf den Heimweg zu machen. Anna mochte es nicht, wenn er nachts allein unterwegs war. Normalerweise respektierte Martin ihre Wünsche, aber der Junge ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er würde ihm nicht helfen können, doch er wollte dasein, wenn er zurückkehrte. Je länger er allerdings darüber nachdachte, desto fragwürdiger erschien ihm auch diese Begründung. Möglicherweise ging es ihm gar nicht allein um den Jungen als Person. Vielleicht sah er in ihm eine Art Symbol für das, was aus der Erde geworden war. Deshalb hatte er nach dem Krieg gefragt, obwohl er die Antwort längst in den Augen des Jungen gelesen hatte. Es war schlimmer geworden, viel schlimmer.
Nein, heute würde Martin keine Sonnensteine suchen, obwohl er die Rummdogs nur zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Er diktierte eine Nachricht für Anna und rief Merope zu sich. Als sich das Rudel in lautlosem Gehorsam auf den Heimweg gemacht hatte, nahm er sein Gepäck auf und folgte der Spur des Jungen in Richtung Gebirge.
In seinen Träumen hatte Arif den Weg schon so oft zurückgelegt, daß er sich mühelos orientieren konnte, auch wenn das steinerne Δ vorübergehend aus seinem Blickfeld geriet. Allerdings hatte er die Entfernung
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