Die Schatten des Mars
abgewartet haben, um keine Störung zu riskieren. Vermutlich hatten nicht einmal die Techniker von seinem Vorhaben gewußt. Julius zweifelte nicht daran, daß es ihm gelungen war, den Kontakt zu Kevin Schwarz herzustellen. Aber dann mußte etwas Unvorhergesehenes geschehen sein.
Julius hatte nicht die Absicht, das Experiment des Professors nachzuvollziehen. Allein die Vorstellung, ohne Absicherung in die Gedankenwelt eines fremden Bewußtseins einzudringen – in sein innerstes Selbst – jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Wer ein derartiges Risiko einging, mußte sehr von sich überzeugt sein. Oder bese s sen.
Es mußte einen anderen Weg geben. Angesichts der dramatischen Folgen des Experiments für einen der Beteiligten konnte er wohl davon ausgehen, daß es auch bei Kevin Schwarz Spuren hinterlassen hatte. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Er mußte ihn fragen.
Julius wählte den Avatar eines Stationsarztes namens Dr. Stadler aus, legte die VR-Ausrüstung an und aktivierte die Verbindung. Laut Systemanzeige war es zehn nach acht Uhr morgens, also war Kevin Schwarz bereits wach.
Der Eintritt in die Simulation war wie stets mit einem leichten Schwindelgefühl verbunden, aber das war nicht das Besondere an diesem Morgen. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben, denn die Szenerie, in die sich Julius versetzt sah, glich bis ins Detail jener, die er bei seinem ersten Besuch vorgefunden hatte: Ein sanfter Wind rauschte in den Wipfeln der Bäume, Vögel zwitscherten, und ein Wildentenpärchen glitt gemächlich über die glitzernde Wasserfläche. Nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt stand ein Mann in Trainingsanzug und weißen Laufschuhen. Kevin Schwarz.
Allerdings schaute er diesmal nicht in die Ferne, sondern beugte sich von Zeit zu Zeit zur Seite, um kleine Steine in den Teich zu werfen. Manche versanken sofort, andere hüpften ein paar Mal über die Wasseroberfläche, bevor sie untergingen. Der dunkelhaarige Mann war so versunken in sein Spiel, daß er Julius’ Gegenwart erst zur Kenntnis nahm, als der ihn direkt ansprach: »Guten Morgen, Herr Schwarz.«
Der Mann im blauen Trainingsanzug schien weder überrascht noch erschrocken. Er drehte sich langsam um und musterte den Neuankömmling ohne besonderes Interesse.
Etwas stimmt nicht mit ihm, dachte Julius, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte: Kevin Schwarz lächelte nicht mehr. Wenn sein Gesicht überhaupt einen Ausdruck trug, dann war es der von Müdigkeit.
»Sie sind nicht Dr. Stadler«, sagte er, ohne die Stimme zu heben.
Julius zuckte zusammen. Woher konnte die KI das wi s sen? Er dachte darüber nach und beschloß dann, seine Tarnung aufzugeben: »Nein, ich bin Julius Fromberg, wie Sie vermutlich wissen.«
»Natürlich. Sie sind der junge Mann, der die Welt mit glücklichen Kunstwesen bevölkern möchte. Wozu eigentlich?«
Obwohl die Frage in eher beiläufigem Ton gestellt worden war, glaubte Julius, eine Spur von Interesse herauszuhören. Es gab also etwas, das die KI nicht wußte, nicht wissen konnte, weil er es nicht einmal dem Professor anvertraut hatte. In diesem Moment begriff er, daß das eine Chance war – vielleicht die einzige Chance herauszufinden, was gestern hier vorgefallen war.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er und hoffte, daß der Sprachkonverter das Zittern aus seiner Stimme herausfiltern würde. »Und außerdem ist sie sehr ... persönlich.«
Kevin Schwarz lachte. Doch es klang alles andere als fröhlich oder auch nur amüsiert. Es war ein rein mechanischer Vorgang, bar jeglicher Emotion.
»Also gut, junger Mann. Tun wir also so, als hätten Sie mir tatsächlich etwas anzubieten. Ich kann nur hoffen, daß Ihre Geschichte interessanter ist als die meines Schöpfers. Warum fragen Sie ihn eigentlich nicht selbst?«
Er weiß es noch nicht, dachte Julius und verspürte seltsamerweise so etwas wie Erleichterung. Hatte er wirklich a n genommen, daß die KI den Professor auf dem Gewissen ha t te?
»Ich kann ihn nicht fragen. Er ist tot.«
»Entschuldigen Sie, das wußte ich nicht«, sagte der Mann im blauen Trainingsanzug ohne das geringste Anzeichen von Betroffenheit. »Hatte er einen Unfall?«
»Er hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen«, erwiderte Julius erbost. »Das kann man natürlich einen Unfall nennen, aber ich vermute, daß Sie mehr darüber wissen als ich.«
»Sie können alles vermuten«, erklärte Kevin
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