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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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so zögerte er, bis ihm der Junge schließlich aus der Verlegenheit half: »Du willst wissen, was der Chanan ist, oder?«
    Martin nickte.
    »Ich würde es dir sagen, wenn es eine Antwort gäbe, die dir weiterhelfen könnte. Aber das ist nicht der Fall. Und bevor du wieder fragst, ob er so etwas wie Gott sei, will ich dir wenigstens darauf antworten: Der Chanan ist ebensowenig Gott, wie eine Laterne die Sonne ist.«
    Die Stimme des Jungen hatte ernst geklungen, und es gab keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Merkwürdigerweise fühlte sich Martin sogar erleichtert, obwohl die Antwort im Grunde nichts erklärte. Unterwegs waren ihm so viele Fragen durch den Kopf gegangen, doch jetzt fiel ihm keine einzige mehr ein, zumindest keine, die der Bedeutung des Augenblicks angemessen gewesen wäre.
    Eine Zeitlang schwiegen beide. Nichts in der Haltung des Jungen deutete darauf hin, daß er auf etwas wartete. Solange Martin keine Entscheidung traf, würde er hier sitzen und wortlos ins Feuer starren, während es draußen Nacht und wieder Tag wurde und weiter Nacht und Tag ...
    Es hat keinen Sinn, noch länger zu warten.
    »Gehen wir«, sagte Martin, doch der Junge hatte sich bereits erhoben, als hätte er seinen Entschluß vorhergesehen.
    »Steig ein.« Die vermummte Gestalt deutete mit einer einladenden Geste in Richtung Fluß.
    Jetzt erst bemerkte Martin das Boot, das dort angelegt hatte. Sein Rumpf glänzte schwarz wie die Oberfläche des Flusses, die Segel schimmerten grünlich, aber das konnte auch der Widerschein des Feuers sein. Martin hätte beschwören können, daß es vor ein paar Minuten noch nicht dagewesen war. Wie damals ...
    Der Anblick des Bootes verstärkte das Déjà-vu-Gefühl in einem Maße, daß die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwammen. Zum ersten Mal überfielen Martin Zweifel an der Realität dessen, was er sah. Was, wenn das alles nur eine weitere Vision war, erschaffen aus den Bildern seiner Träume?
    Dagegen sprach, daß er sich noch genau erinnern konnte, wie er hierher gelangt war. Auch seine Kleidung und der Rucksack, den er trug, stammten eindeutig aus seinem gewohnten Umfeld. Martin hakte die Daumen unter die beiden Tragriemen und zog sie straff, bis seine Schultern zu schmerzen begannen.
    Nein, das war kein Traum ...
    Immer noch ein wenig mißtrauisch folgte Martin dem Jungen zum Ufer, stieg aber erst zu ihm ins Boot, als er sich davon überzeugt hatte, daß das zerbrechlich aussehende Gefährt stabil genug war, sein Gewicht zu tragen. Eine Sitzgelegenheit gab es allerdings nicht, so daß er gezwungen war, auf den hölzernen Planken Platz zu nehmen, während das Boot ablegte.
    Der Junge hatte eine Fackel angezündet und im Heck des Bootes befestigt. Ihr zuckendes Licht spiegelte sich auf der Oberfläche des Wassers. Obwohl Martin nur einen schwachen Windhauch spürte, füllten sich die filigranen Segel mit Luft, und das Boot nahm Fahrt auf.
    »Fahren wir zur Stadt?« erkundigte sich Martin schließlich und wunderte sich über den dumpfen Klang seiner Stimme. Die Akustik hatte sich verändert; die Oberfläche des Flusses schien seine Worte aufzusaugen wie die Wände eines schalltoten Raumes. Minutenlang glitt das Boot lautlos durch die Dunkelheit, ohne daß Martin den Mut aufbrachte, seine Frage zu wiederholen.
    »Nein, unser Weg wird zwar an Sadaika vorbeiführen«, erwiderte der Junge schließlich. »Aber du mußt dich von der Stadt fernhalten ... heute.« Seine Stimme klang unverändert deutlich, sonst hätte Martin das leichte Zögern vor dem Nachsatz kaum bemerkt.
    Sadaika, dachte Martin, das klingt wie ein Mädche n name. Dennoch war er enttäuscht. Die gläserne Stadt bedeutete mehr für ihn als die Erinnerung an einen Traum. Die Stadt hatte ihn getröstet, damals, unmittelbar nach Steves Tod. Ihr Gesang war wie ein Versprechen gewesen, ein Versprechen, das keiner Worte bedurfte. Er hatte stets an ihre Existenz geglaubt, und dieser Glaube hatte ihm geholfen, Kälte und Einsamkeit zu ertragen – und das Bewußtsein der Schuld. Die Stadt erwartete ihn, davon war Martin zutiefst überzeugt. Und jetzt, da er sie en d lich wiedergefunden hatte, sollte er sich von ihr fernha l ten?
    »Du wirst hierher zurückkehren«, versicherte ihm der Junge, als hätte Martin seine Gedanken laut ausgesprochen. »Doch heute ist dein Ziel ein anderes. Die Stadt der tausend Stufen würde versuchen, dich aufzuhalten – nicht weil sie dir etwas Böses will, sondern weil es in ihrem

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