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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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du bist doch gar nicht unscheinbar!»
    Unwillkürlich betrachtete ich mein Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe. Ich vergaß es immer, aber Thomas hatte recht. Die hellen Strähnchen, mit denen ich mein aschblondes Haar seit Jahren aufpeppte, bildeten einen guten Kontrast zu meinen dunkelgrauen Augen. Und meine Figur, die immer viel zu knabenhaft gewesen war, wirkte jetzt, mit Anfang vierzig, zierlich und attraktiv, während die üppigen Schönheiten von damals vermutlich früh verblüht waren, wie meine Mutter das gerne bezeichnete.
    «Damals habe ich mich aber so gefühlt», sagte ich, «unscheinbar. Neben Hanna und Fabienne waren Dorit und ich Statistinnen. Sie brauchten uns doch nur, damit ihr eigenes Licht umso heller funkelte. Da wollte ich nicht mehr mitmachen.»
    «Und das war alles?»
    Fast.

[zur Inhaltsübersicht]
    FABIENNE
    Ich packte ein paar Kleidungsstücke zusammen, alles dezent und in Schwarz. Den Talar, der immer auf einem Bügel an meiner Schlafzimmertür hing, nahm ich nicht mit. Dorits Begräbnis würde kein kirchliches werden, sondern lediglich eine «schöne und würdige Feier», wie meine Tante es ausgedrückt hatte. Die Beerdigung sollte am Freitagmittag stattfinden. Ich hatte mit Tante Hiltrud verabredet, am Donnerstag zu ihr zu kommen, mit ihr zu Abend zu essen und dann die Nacht in ihrem Bügelzimmer unterm Dach zu schlafen, dort, wo früher das Zimmer meines Cousins Norbert gewesen war. In der Ecke stand immer noch sein Jugendbett unter einem vergilbten Poster irgendeines längst vergessenen Stürmers des VfB Lübeck.
    Tante Hiltruds winziges Backsteinhäuschen war der einzige Anlaufpunkt, den ich noch in Beerenbök hatte, seit meine Eltern vor fünfzehn Jahren beschlossen hatten, ihr Haus zu verkaufen und sich auf Gran Canaria der ewigen Sonne auszusetzen. Allerdings war ich auch in der Zeit davor so gut wie nie bei ihnen gewesen. Zu mehr als einem oder zwei Pflichtbesuchen pro Jahr war es nie gekommen. Nach dem Abi, das ich auf einem angesehenen Internat gemacht hatte, war ich zum Studium nach Kiel und Edinburgh gegangen, und Beerenbök war weit, weit weg gewesen.
    Wir hatten uns nicht viel zu sagen, meine Eltern und ich. Sie waren – auch wenn das hart klingt – Proleten, die zu Geld gekommen waren. Baugewerbe, Immobilien, Spekulationen. Dass ihre Tochter studieren wollte, und dann ausgerechnet Theologie, hatten sie nie begriffen. Der einzige Bezug, den mein Vater zum Glauben hatte, war sein Lebensmotto «Gott ist mit den Tüchtigen». Das erlaubte ihm, relativ skrupellos seinen Geschäften nachzugehen. Und meine Mutter ging nur deshalb an Ostern, Erntedank und Weihnachten zur Kirche, weil man das halt so tat in Beerenbök. Ich hatte manchmal das Gefühl zu verhungern, bei uns zu Hause. Natürlich nicht, was das Essen anging, da wurde reichlich aufgetischt, vor allem Fleisch. So viel, dass ich mit dreizehn, vierzehn für ein ganzes Jahr Vegetarierin gewesen war, zum Entsetzen meiner Mutter. Nein, es war ein geistiges Hungern, vielleicht sogar ein seelisches. Eine Sehnsucht nach Gedanken und Gefühlen und Ideen, nach irgendetwas, das über das Geldverdienen und Geldausgeben hinausging.
    Deshalb ging ich gerne zur Schule, ich lernte mit Feuereifer, auch noch in dem Alter, in dem anderen Jugendlichen die Schule komplett egal war. Ich saugte alles auf, was mir geboten wurde, vor allem im Religions- und Philosophieunterricht, wo es um ebendiese Ideen, Ideale und Erkenntnisse ging, die ich bei meinen Eltern vermisste. Ich war als Streberin verschrien, aber das störte mich nicht, im Gegenteil. Was war denn falsch daran, nach etwas zu streben, nach Höherem?
    Dorit war viel zu ichbezogen, um sich für irgendetwas zu interessieren, das jenseits ihrer Gefühlswelt lag. Marie war freundlich, und ich mochte ihre unaufdringliche Art. Aber sie blieb immer mit beiden Füßen auf dem schleswig-holsteinischen Mutterboden, und ihre Fixierung auf den Vergleich mit ihrer Schwester machte sie wenig empfänglich für anderes.
    Nein, Hanna war die Einzige, bei der ich etwas Ähnliches spürte: den Wunsch, dem Leben einen Sinn zu geben, jenseits vom Materiellen. Wenn wir uns alleine trafen, ohne die anderen, sprachen wir immer wieder davon, auszubrechen aus der Enge unseres Dorfes, dorthin zu gehen, wo das wirkliche Leben stattfand. Aber sie begriff nicht, dass man sich einsetzen musste für die eigenen Ziele, für den Erfolg. Sie ging einfach davon aus, dass sie etwas Besseres war, eine angehende

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