Die Schatten eines Sommers
würde. Keine hatte die anderen lesen lassen, was sie sich erträumte. Nur der Schlusssatz war bei allen der gleiche, wir hatten ihn vorher abgesprochen: «Lebe Deinen Traum!»
Die Briefe hatten wir in eine bunte Keramikdose gelegt und mit den Händen ein tiefes Loch gegraben, in dem wir sie versenkten. Dreißig Jahre später wollten wir gemeinsam zurückkehren, das hatten wir uns geschworen, egal, wo wir leben würden, und die Briefe hervorholen, sie gemeinsam lesen und sehen, was aus unseren Träumen geworden war. Ich wusste noch, was ich damals geschrieben hatte. Jungmädchenträume, von denen ich so fest geglaubt hatte, dass sie sich erfüllen würden. Irgendetwas Kreatives wollte ich werden, etwas, das mich berühmt machen würde und reich. Und geliebt werden wollte ich, von einem schönen, liebevollen, starken Prinzen und mit ihm zwei Kinder bekommen. Glücklich wollte ich sein. Meine Wünsche, dachte ich damals, würden sich erfüllen. Weil ich es so wollte. So funktioniert das Leben, hatte ich gedacht.
«Wenn man sich etwas ganz fest wünscht», hatte ich den anderen dreien gesagt, «wenn man nur fest daran glaubt … dann bekommt man auch, was man will.»
Fabienne hatte spöttisch gelacht und mir einen Satz hingeworfen, in dem es darum ging, dass Wünschen allein nichts wert ist, solange man sein Schicksal nicht selbst in die Hand nimmt. Sie hatte einen ihrer Lieblingsautoren zitiert: «Sartre meint, dass der Mensch sich durch seine Handlungen entwirft. Wirklichkeit gibt es nur in der Tat.»
Es war einer der vielen Momente gewesen, in denen ich sie für ihre überlegene Klugheit hasste. Sie sagte nie etwas Unbedachtes, so schien es mir. Aber ich ließ mir nicht anmerken, wie klein und dumm ich mich ihr gegenüber wieder einmal fühlte. Ich wusste, dass es etwas gab, mit dem ich sie bezwingen konnte. Etwas, das sie nicht unter Kontrolle hatte.
Auf dem Heimweg vom See waren wir auf unseren Fahrrädern in einen Feldweg eingebogen und hatten haltgemacht. Marie und Dorit hatten Kornblumen entdeckt, die sie pflücken wollten. Ich hatte es ihnen gestattet. So war es, wenn wir vier zusammen waren. Ich war es, die Entscheidungen traf. Wir hatten nie ein Wort darüber verloren, ob es eine Anführerin geben sollte, niemals eine ernannt. Und trotzdem war ich es, unausgesprochen. Bis auf jene Tage, an denen Fabienne mir zeigte, wer eigentlich das Sagen hatte. Ein kurzer ironischer Einwand, manchmal nur ein skeptischer Blick von ihr genügte. Wie auf einen geheimen Befehl hin schwenkten Marie und Dorit zu ihr um, und sie hatte die beiden in der Hand. Wirklich gefestigt war meine Position nur, wenn Jungs in der Nähe waren. Die Stunden vor der Eisdiele im Nachbardorf, die Abende in der Jugenddisco der Kirchengemeinde – das waren sichere Tage. Tage, an denen Fabienne keine Chance hatte und ich alle Trümpfe in der Hand. Fabienne war burschikos und tat alles, um diese Wirkung zu verstärken. Sie sah interessant aus mit ihren scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Sie hätte hübsch sein können, hätte es sie interessiert. Aber sie verachtete jede Art von Weiblichkeit. Wenn wir drei anderen Stunden brauchten, um uns für die Disco zurechtzumachen, schaute sie uns nur zu und machte bissige Bemerkungen.
«Verzieh dich oder halt endlich die Klappe», sagte ich einmal zu ihr. «Das hier ist Frauensache.»
Sie und ich waren nie zimperlich miteinander umgegangen, und es überraschte mich, wie sehr meine Worte sie trafen. Ich war befriedigt, sie endlich einmal sprachlos zu sehen.
Damals, auf dem Rückweg von unserem See, war ich mit Fabienne zurückgeblieben. Wir sahen Dorit und Marie nach, wie sie am Feldrand herumstrolchten und sich immer weiter von uns entfernten.
«Fünf Minuten!», hatte ich den beiden nachgerufen, aus purer Lust heraus, etwas anzuordnen. «Dann müssen wir weiter!»
Fabienne hatte sich neben ihrem Rad ins Gras geworfen. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und betrachtete mich. Eine Zeitlang tat ich, als ob ich es nicht bemerken würde. Aber dann sah ich ihr in die Augen. Ich ahnte, was ich in ihrem Blick finden würde, und wusste, was ich tun wollte. Nicht aus Begierde. Noch nicht einmal aus Neugier. Ich tat es, weil ich berauscht war davon, Macht über sie zu haben. Über sie, die so viel klüger war als ich, so viel belesener, so viel zynischer. So viel unnahbarer. Ich kniete mich über sie, packte ihre Handgelenke und küsste sie. Ich war überrascht, wie weich
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