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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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ihre spöttischen Lippen waren. Wie bereitwillig sie sie öffnete. Wie schüchtern und zugleich hingebungsvoll ihre Zunge mit meiner spielte.
    Als ich aufhörte sie zu küssen, öffnete sie die Augen. Und war von einer Sekunde zur anderen wieder die kühle, klare Fabienne.
    «Na?», fragte sie spöttisch. «Zufrieden?»
    Ich ließ mich nicht irritieren, ich fühlte mich stärker als sie in diesem Moment.
    «Ja», sagte ich. «Allerdings, meine Kleine.»
    Ich hatte vergessen, wie kräftig sie war. In Sekundenschnelle hatte sie sich befreit und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie trug einen auffälligen Ring damals, der meine Oberlippe traf und sie aufplatzen ließ.
    «Pass auf!», zischte sie. «Geh nicht zu weit!»

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    «Die Dorit ist tot …» Die Worte meiner Mutter schienen in meinem Kopf dauerhaft ein Echo zu bilden. Wieder und wieder hörte ich den Satz in den nächsten Tagen, wie in einer quälenden Endlosschleife. Und dennoch drang die Nachricht nicht wirklich zu mir durch. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Dorit nicht mehr existierte. Die Umstände ihres Todes schienen noch immer nicht geklärt zu sein. Aber spielte das wirklich noch eine Rolle? Unfall oder Selbstmord – es würde nichts daran ändern, dass ich nie mehr die Gelegenheit haben würde, mich mit Dorit auszusprechen. Zu spät. Aus und vorbei. Für immer. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich wohl all die Jahre über in meinem Inneren die nebulöse Hoffnung auf eine Versöhnung, zumindest eine Aussprache mit Dorit und den anderen in mir herumgetragen hatte. Dabei hatte es damals ja gar keinen Streit gegeben zwischen uns vier «Unzertrennlichen», keine dramatische, lautstarke Auseinandersetzung. Wir waren einfach auseinandergegangen, froh, uns nicht mehr in die Augen sehen zu müssen. Dafür wog das, was geschehen war, zu schwer. Aber irgendwie war es mir immer ein Trost gewesen, dass es da zumindest noch eine ferne Möglichkeit gab, Abbitte zu leisten, indem wir die Dinge ein Mal, nur ein einziges Mal, offen aussprachen. Natürlich hätte es nichts an unserer Schuld geändert. Das war ja unmöglich. Aber einen Hauch von Vergebung zu erlangen, irgendwann, später, das schien zumindest nicht völlig ausgeschlossen zu sein. Mit dieser fernen Möglichkeit hatte ich mich all die Jahre begnügt. Doch nie hatte ich auch nur im Ansatz versucht, sie in die Tat umzusetzen. Dass ich es jederzeit tun
könnte
, hatte mir völlig ausgereicht. Ich machte mir nichts vor: Wahrscheinlich wäre es die nächsten zwanzig Jahre so weitergegangen. Aber jetzt war Dorit tot. Und ich plötzlich mit dem «Nie mehr» konfrontiert. Und mit Fragen. Vielen Fragen: Warum war ich so feige gewesen? Wieso waren jahrelang andere Dinge weitaus wichtiger gewesen, dringlicher erschienen? Warum hatte ich mich meiner Vergangenheit nie gestellt?
    Um ehrlich zu sein, war ich mir noch nicht einmal jetzt sicher, ob ich mich der Vergangenheit stellen sollte. Ob ich es überhaupt
wollte
. Musste ich wirklich zu Dorits Beerdigung? Wem würde es nutzen? Etwa Dorits Mutter, die die Welt ohnehin nur noch verschwommen wahrnahm? Den Leuten in Beerenbök? Ehemaligen Lehrern, Nachbarn, Bekannten? Die konnten mir egal sein. Sicher, meine Mutter würde sich über meine Absage aufregen. Schließlich waren Dorit und ich doch irgendwann einmal befreundet gewesen, und schließlich «gehörte es sich» doch einfach, einer Verstorbenen Respekt zu erweisen, indem man an der Trauerfeier teilnahm. Meine Schwester Katharina zumindest hätte keine Sekunde gezögert, ihre Freundschaftspflicht zu erfüllen. Vermutlich hätte sie noch am Vorabend der Beerdigung die Schleife am teuren Trauerkranz mit Seidenfarbe selbst bemalt … Ich atmete tief durch. Ein Grund mehr, nicht nach Beerenbök zu fahren. Ich hatte mich entschieden: Ich würde mir diese Farce ersparen.
    Als ich abends Thomas meinen Entschluss mitteilte, sah er mich überrascht an. «Bist du dir sicher, Marie? Das würde ich mir wirklich noch mal überlegen.»
    «Warum sollte ich?» Ich bemerkte selbst den Trotz in meiner Stimme. Ich wollte keine Einwände hören, keine Argumente oder Bedenken. Ich wollte einfach meine Ruhe haben, nicht mehr nachdenken müssen. Aber den Gefallen tat mir Thomas nicht.
    «Die Trauerfeier ist doch eine gute Gelegenheit, Abschied zu nehmen; sie macht das, was uns unbegreiflich scheint, realer, findest du nicht? So eine Beerdigung ist einfach ein wichtiger Schlusspunkt, um den

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