Die Schatten eines Sommers
Tod zu verarbeiten.»
«Also wirklich …» Ich zog eine Grimasse. «Das klingt wie aus einem Psychoratgeber.»
«Es stimmt aber trotzdem.» Thomas runzelte die Stirn. «Weißt du noch, mein Freund Jan? Du erinnerst dich: Der Typ, der sich während meines Studiums umgebracht hat?»
Ich nickte widerwillig. Thomas hatte mir die Geschichte bestimmt schon ein Dutzend Mal erzählt. Aber so ist das nun mal in einer langen Ehe: Bestimmte Lebensepisoden hörte man sich wieder und wieder an, und manche entwickeln mit der Zeit interessante Variationen und Schnörkel. Diese hier nicht. Ich hätte den Text mitsprechen können:
Damals sind alle
…
«Damals sind alle nach Lüneburg zu Jans Beerdigung gefahren», begann Thomas. «Nur ich nicht, weil ich gedacht habe, ich brauche das nicht, das zieht mich nur runter, so kurz vor dem Examen und überhaupt. Aber es war ein Fehler. Die anderen haben mit Jans Eltern gesprochen und mit seinem älteren Bruder, sie haben an Jans Grab gestanden und geheult. Und als sie zurückkamen, ging es ihnen besser. Sie hatten gemeinsam getrauert und die Geschichte mit Jan zu Ende gebracht. Während bei mir einfach eine Lücke geblieben ist.»
«Jaja, mag sein, aber bei Dorit ist das etwas ganz anderes als damals bei dir», wandte ich ein. «Meine Freundschaft mit ihr ist seit fast fünfundzwanzig Jahren vorbei …!»
«Glaubst du, dass die anderen beiden zur Beerdigung kommen?»
«Du meinst Fabienne und Hanna?» Ich schüttelte den Kopf. «Nein, ganz bestimmt nicht! Die sind doch schon vor Jahren weg aus Beerenbök. Da gibt’s sicher gar keine Verbindung mehr.» Ich schenkte mir eine Tasse Tee ein. «Muss auch nicht sein …»
«Was?»
Ich verzog das Gesicht. «Ein frohes Wiedersehen, wie du dir das vielleicht vorstellst, gibt’s da einfach nicht! Dorit und ich, wir durften doch schon früher nur brav applaudieren, wenn die zwei ihre Auftritte hatten.»
Thomas sah mich erstaunt an. Der Sarkasmus in meiner Stimme war nicht zu überhören gewesen. Waren die Verletzungen von damals noch immer nicht verheilt?
«Egal. Was vorbei ist, ist vorbei», schloss ich energisch.
«Aber du hast ihr Buch gelesen», bemerkte Thomas. «Das neue Buch von dieser Hanna, ich hab’s auf deinem Nachttisch liegen sehen.» Er grinste leicht. «‹Sommer der Sünde› … Was für ein Titel! Aber es scheint gut zu laufen. Vielleicht kannst du sie ja mal zu einer Lesung in die Bücherei einladen?»
«Hanna liest ganz bestimmt nicht in irgendeiner popeligen Bücherei! Und ihr Buch ist auch nichts Besonderes. Ich musste nur reinschauen, weil es auf allen Bestsellerlisten steht, rein beruflich also.»
Ich stand auf und begann den Tisch abzuräumen. «Es war keine wirklich gute Beziehung zwischen uns vieren, keine echte Freundschaft. Wir haben uns eine Zeitlang aneinander ausprobiert, unsere Wirkung getestet und uns dabei ständig miteinander verglichen, so wie Mädchen das in dem Alter eben tun. Da liegt oft Konkurrenz in der Luft. Die persönlichen Schwächen, die du deinen Freundinnen an einem Tag offenbarst, werden vielleicht schon am nächsten gegen dich verwendet.»
Thomas nahm mich in den Arm und küsste mein Haar. «Ich weiß, ich weiß: Frauen sind grausam und schrecklich gemein …»
Ich löste mich von ihm. «Nicht Frauen. Mädchen.»
Er schüttelte den Kopf. «Also, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du jemandem mal eine schlechte Freundin warst, Marie. Du bist doch wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit für jede gequälte Seele da, die dir ihr Herz ausschütten will, und dabei bist du auch noch unglaublich geduldig und diskret. Das habe ich immer bewundert.»
Ich sah überrascht auf. «Du hältst mich also für eine Art heilige Mutter Teresa der Einbauküchen? – Danke für die Blumen!»
«Bitte, ist doch nur die Wahrheit!» Er lächelte. «Worüber habt ihr euch eigentlich damals gestritten?»
«Wer?»
«Na, Dorit und du und die beiden anderen? Das hast du noch nie so richtig erzählt. Ging’s um Jungs?»
Ich wandte mich ab. «Ach, das ist so lange her. Ich erinnere mich gar nicht mehr genau. Es war wohl irgendeine läppische Streiterei, die einfach eskaliert ist. Wir waren sowieso viel zu verschieden. Jede von uns hatte ihre Rolle. Und ich konnte meine damals nicht mehr ertragen.»
«Und welche war das?»
Ich zögerte einen Moment. Ich hatte schon mehr gesagt, als ich wollte. «Die der unscheinbaren Mitläuferin.» Das auszusprechen tat sogar heute noch weh.
«Aber
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