Die Schatten eines Sommers
Sekunden nach ihr bei der Eisdiele oder am See an. Aber niemals als Erste, so wie Dorit und Marie. Ich fand das uncool. Bohemiens sind nicht pünktlich, dachte ich und pflegte mein Zuspätkommen. Später hatte ich es mir dann einfach nicht mehr abgewöhnen können. Abgesehen davon gab es zu wenige Veranstaltungen auf dieser Welt, zu denen rechtzeitiges Kommen lohnte.
Ich hatte alles sorgfältig durchgerechnet. Dorits Begräbnis war für zwölf Uhr angesetzt. Wenn ich um fünf nach zwölf da sein würde, hatte ich gedacht, würden die Türen der Kirche eben gerade geschlossen werden, und ich könnte unauffällig in eine der hinteren Reihen schlüpfen.
Für den Weg von Malente nach Beerenbök hatte ich zwanzig Minuten einkalkuliert. Das neue Navi, das ich mir vor Wochen gekauft hatte, lag immer noch verpackt im Handschuhfach, also hatte ich die Zeit schätzen müssen. Zudem war ich überstürzt und zu früh losgefahren, nachdem beim Auschecken der Hoteldirektor herbeigerufen wurde, um sich ein Exemplar meines Buches signieren zu lassen. Ob ich noch eine Sekunde warten könne, hatte er gefragt, weil auch die Hausdame mir gerne einmal die Hand geschüttelt hätte, und ob wir nicht schnell noch ein gemeinsames Foto machen könnten. Ich war so schnell aus dem Hotel gesprintet, dass ich sogar vergessen hatte, meine Rechnung mitzunehmen.
Ich brauchte keine zehn Minuten bis nach Beerenbök. Schon von weitem lugte der Rundturm der mittelalterlichen Kirche durch die Bäume. Die Kirche war wohl das Schönste an Beerenbök. Mit ihrem trutzigen Turm und den buckeligen Felssteinwänden sah sie aus wie eine kleine Märchenburg. Der eichenbestandene Friedhof, der sie umgab, grenzte direkt an Beerenböks kurvige Hauptstraße. Trotz der offenen Wagenfenster und des Fahrtwindes waren meine Hände schweißnass, als ich die letzte Kurve vor der Kirche nahm.
Es musste ganz Beerenbök sein, das dort – ganz in Schwarz – vor dem Friedhofstor in kleinen Grüppchen stand. Ich war in der Kurve langsamer gefahren, aber nun trat ich hastig aufs Gaspedal und schoss an der Trauergemeinde vorbei. Gleich nach dem Ortsausgangsschild bog ich in die schmale Landstraße ein, die ins Nachbarkaff führte, bremste am Straßenrand, stellte den Motor ab und wühlte in meiner Handtasche nach den Zigaretten. Den protzigen, schneeweißen Geländewagen, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite näherte, bemerkte ich zunächst gar nicht. Erst als er dicht neben meiner Tür stehen blieb, sah ich auf.
Ich habe ein sagenhaft schlechtes Gesichtergedächtnis. Und auch Namen kann ich mir nur sehr schwer merken. Aber den korpulenten Mann, der nun eilig seine Scheibe herunterfuhr, erkannte ich sofort. Es war Mirko.
Es war das erste Mal seit der Schulzeit, dass ich ihn wiedersah. Damals war er ein kräftiger Bauernsohn gewesen, nicht unattraktiv, aber immer viel zu laut, provokativ und darauf bedacht, im Mittelpunkt zu stehen. Er war weder intelligent noch witzig gewesen, nicht unser Niveau, in keiner Hinsicht. Nur im Geheimen stellte ich mir manchmal vor, dass er mich packen und küssen würde. Denn keiner der anderen Jungs hatte, was Mirko besaß: eine männliche, animalische Ausstrahlung. Er überdeckte sie durch seine lärmende, nervige Art. Aber dennoch: Wenn er wieder mal ein Mädchen durch leicht zusammengekniffene Augen taxierte, war sie früher oder später an seiner Seite. Immer nur für kurze Zeit. Er war zu unsensibel, zu grobschlächtig, um sie länger zu halten. Einmal war eine von ihnen mit einem blauen Auge zur Schule gekommen. Aber die Sache wurde schnell begraben. Ich hatte damals viele geküsst und war furchtlos, aber von Mirko hatte ich mich ferngehalten.
Er war dick geworden, und die Haare waren ihm ausgegangen – aber immer noch hatte er diesen Blick, immer noch war er hungrig.
«Was für eine reizende Überraschung! Auch auf dem Weg zu Dorits Party?» Eine von Mirkos Spezialitäten waren schon immer seine unsäglichen Sprüche gewesen.
Ich wedelte mit meinem Päckchen Zigaretten. «Danke, aber ich rauche erst noch eine.»
Mirko fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
«Rauchen! Gut! Hast du eine für mich?» Ich reichte ihm eine Zigarette durchs Fenster und gab ihm Feuer. Nach dem ersten gierigen Zug blies er den Rauch in meine Richtung.
«Davon hab ich immer schon geträumt. Mit dir allein mal eine rauchen. Haben wir nie gemacht, oder?»
Ich schüttelte den Kopf.
Ich hätte jeden lieber gefragt als ihn, aber er war der
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