Die Schatten eines Sommers
Blick über meinen Körper gewandert, hatte meine Beine in dem kurzen Rock taxiert, meine Brüste. Und ich hatte seinen Blick genossen, diese kleine Genugtuung nach all den Jahren, dass ein Mann sich mehr für mich interessierte als für Hanna oder Fabienne. Ja, Wolffs Aufmerksamkeit hatte mich sogar ein bisschen erregt. Und direkt danach hatte ich mich sofort zutiefst geschämt. Wie war es möglich, dass ich hier auf Dorits Beerdigung saß, mich schrecklich und traurig fühlte und mir gleichzeitig die flüchtige Anmache meines Ex-Lehrers weiche Knie verursachte? – Aber war es nicht so, dass Menschen, wenn sie mit Tod und Vergänglichkeit konfrontiert wurden, das Leben besonders intensiv spüren wollten? Und das gelang nun mal mit Sex. Ich musste daran denken, wie Thomas und ich vor Jahren, nur einige Stunden, nachdem wir vom plötzlichen Unfalltod einer Kollegin erfahren hatten, regelrecht übereinander hergefallen waren. Danach hatte ich mich seltsam schuldig gefühlt. Aber zugleich auch befreit.
Es war lange her.
Ich wandte mich Hanna zu. «Und? Wie geht es dir so?»
Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch. «Wie? Jetzt gerade?»
Ich seufzte. War Hanna diese Spielchen immer noch nicht leid? War ihr eine normale Unterhaltung immer noch zu langweilig, zu spießig? Musste sie ewig die Unkonventionelle raushängen lassen? «Nein, ich meine natürlich: Wie ist es dir ergangen in all den Jahren? Bist du verheiratet?»
War sie nicht. Schließlich hatte ich diverse Interviews mit ihr gelesen. Aber das musste Hanna ja nicht unbedingt wissen. Sie war auch so schon eitel genug.
Hanna warf ihre Haare nach hinten. «Nein, die Ehe ist nichts für mich. Ich brauche Abwechslung, ein bisschen Spannung.»
Ich nickte.
«Aber du, du bist verheiratet, oder?» Hanna lächelte. «Und Kinder hast du bestimmt auch.»
«Wir haben eine Tochter, Lea. Sie ist fünfzehn.»
«Und du bist bestimmt eine ganz wunderbare Mutter …»
Die Art, wie sie es sagte, gefiel mir nicht. Es klang nach Langeweile, Eintopf und Gluckendasein. Oder war ich zu empfindlich?
Ich runzelte die Stirn. Wer konnte mir verdenken, dass ich jedes Wort von Hanna auf die Goldwaage legte? So mausgrau und spießig, wie sie mich in ihrem Buch dargestellt hatte! Als hätte sie meine Gedanken gelesen, beugte Hanna sich plötzlich über den Tisch und legte ihre Hand auf meinen Arm. «Marie, es ist nur ein Buch, hörst du? Ich habe einen Roman geschrieben, kein …» Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. «… kein Enthüllungsbuch und schon gar keinen Tatsachenbericht, verstehst du? – Klar, ich habe bestimmte Züge von uns einfließen lassen. Aber doch nur im Ansatz! Ich meine, ich wusste doch gar nicht, wie ihr drei euch in Wirklichkeit entwickelt habt, besonders du, Marie! Ich … Ich habe die Charaktere einfach so zusammengestellt, wie es für die Dramaturgie passte. Rein professionell.»
Ich hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. «Lass es, Hanna, bitte! Ich habe verstanden, was du mir sagen willst. Und es spielt ja eigentlich auch keine Rolle mehr …»
Wir schwiegen.
Hanna zupfte an ihrer Serviette herum, sie vermied meinen Blick. «Hattest du eigentlich noch viel Kontakt zu ihr, in den letzten Jahren?» Es war klar, von wem sie sprach. Und zum ersten Mal klang ihre Stimme eine Spur unsicher und verletzlich. «Ich … ich habe nur ein einziges Mal mit ihr telefoniert. Kurz vor ihrem Tod.»
Ich nickte, ohne darüber nachzudenken. «Ich auch.»
Wir tauschten einen Blick, und uns beiden war klar, dass dies nicht der Moment war, in dem wir weiter darüber sprechen wollten.
«Ich habe sie manchmal auf der Straße getroffen», sagte ich schnell, «wenn ich meine Mutter besucht habe. Dann haben wir ein paar Worte gewechselt, mehr wollten wir beide nicht. Aber ich hab zumindest mitgekriegt, dass sie damals nach dem Unfall eine Weile bei ihrem Vater und seiner neuen Freundin gelebt hat. Aber das ging anscheinend nicht gut, zumal die Freundin ruck, zuck schwanger wurde.»
Hanna nickte nachdenklich. «Und dann ist Dorit nach Beerenbök zurückgegangen?»
«Nicht gleich! Sie hat noch ein Jahr in einer Jugendwohnung in Lübeck gelebt. Dann hat sie eine Ausbildung angefangen, hier bei Behrends.»
«Echt? Bei dem Futtermittelhändler?»
«Ja, und sie ist wieder bei ihrer Mutter eingezogen und hat sie gepflegt.»
«… und ist hier hängengeblieben.» Hanna seufzte.
«Zwanzig Jahre Beerenbök, Behrends-Futtermittel, und die Mutter ein
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