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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast
Autoren: Stuart Neville
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gegeben hatte, erinnerte sich Fegan am ehesten an die Hände seines Vaters. Bis heute wusste er noch, wie rau und knochig sie sich angefühlt hatten, wie fest und warm sie gewesen waren, sah die langen Finger mit den orangefarbenen Nikotinflecken vor sich.
    Fegan war neun Jahr alt gewesen, als er diese Hand zum letzten Mal gehalten hatte. Es war an einem kalten Morgen im Schlafzimmer seiner Eltern gewesen, in dem die Tapete von der Feuchtigkeit Blasen warf und abblätterte. Er erinnerte sich noch an den Schimmelgeruch, vermischt mit dem blumigen Duft seiner Mutter, als sie hereinkam. Sie setzte sich aufs Bett, nahm eine Bürste und strich ihm damit über den Kopf.
    Ein paar Minuten vergingen, dann fragte sie: »Mit wem hast du gerade gesprochen, als ich hereinkam, mein Schatz?«
    »Mit niemandem«, antwortete er.
    Die Wildschweinhaare kratzen wie Nägel. Sein Kragen fühlte sich an, als habe ihm jemand die Finger um den Hals gelegt, er musste beinahe würgen. Durch den Spiegel musterte er seine Mutter vor ihrem guten Frisiertisch aus Mahagoni. Er stand da und hatte die Hände auf das kühle Holz gelegt. Ihre Augen waren gerötet und feucht.
    »Du hast doch mit jemandem gesprochen. Mit deinen Freunden? Denen, über die du mich immer anschwindelst?«
    »Nein«, sagte er.
    Sie schlug ihm mit der Bürste auf den Rücken, und es stach so sehr, dass er auf die Zehenspitzen ging und die Hinterbacken zusammenkniff.
    Sie bürstete weiter. »Ausgerechnet an so einem Tag solltest du mich nicht anlügen, Gerald Fegan. Mit wem hast du gesprochen?«
    Er schniefte und starrte trotzig ihr Spiegelbild an. »Mit Daddy«, sagte er.
    Die Bürste hielt auf seinem Scheitel inne. Die Borsten gruben sich in seiner Kopfhaut. Sie blinzelte einmal, und aus ihrem linken Auge stahl sich eine Träne. »Hör damit auf«, sagte sie.
    »Es war Daddy.«
    »Dein Daddy kommt heute unter die Erde.« Sie legte die Bürste neben sich aufs Bett und packte ihn fest an den Schultern. Ihr Atem brannte auf seiner Haut. »Bald schrauben sie den Deckel drauf, aber noch ist der Sarg offen. Ich habe nicht von dir verlangt, dass du ihn dir anschaust, weil ich wusste, dass du das nicht willst. Aber gleich verlange ich es, wenn du mir weiter diese Lügenmärchen erzählst. Willst du, dass ich dich zwinge, ihn dir anzuschauen?«
    Fegan wollte den Kopf schütteln, um es ihr recht zu machen, aber sein Verlangen, dass sie es erfuhr, war größer. »Er hat meine Hand gehalten«, sagte er.
    Sie riss ihn zu sich herum. Ihre Hand klatschte so fest auf seine Wange, dass er Sternchen sah. Er schwankte, aber sie hielt ihn an den Schultern fest.
    »Du hörst mir jetzt zu, Gerry.« Ihr Gesicht wurde so spitz wie das eines Vogels. »Ich will nichts mehr hören von diesem … Teufelskram. Schluss damit! Hast du mich verstanden?«
    Kaum hatte er den Mund aufgemacht, um zu widersprechen, bekam er eine weitere schallende Ohrfeige.
    »Kein Wort mehr. Du siehst niemanden. Du sprichst mit niemandem. Du achtest einfach nicht auf sie. Willst du denn, dass die Leute dich für verrückt halten? Willst du in der Klinik enden, bei diesen ganzen übergeschnappten alten Männern, die sich ständig selbst beschmutzen?« Sie rüttelte ihn durch. »Sags mir. Willst du das?«
    Blind vor Tränen schüttelte Fegan den Kopf. Er wollte losheulen, aber der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken und schwoll in seinem Kopf an, bis dann endlich doch noch Luft in seine Lungen strömte. Sie entfuhr ihm in abgehackten Schluchzern. Er ließ sich in den Schoß seiner Mutter fallen und von ihren Armen umfangen.
    »Ach, es tut mir leid, mein kleiner Schatz … Jetzt beruhige dich erst mal. Wenn du ruhig bleibst, dann lassen sie dich in Ruhe. Immer schön ruhig bleiben.«
    Sie nahm sein tränenüberströmtes Gesicht in ihre Hände und lächelte ihn an. »Achte einfach nicht auf sie und bleib schön ruhig. Wo der Teufel nicht erwünscht ist, da findet er auch keinen Einlass. Verstehst du das?«
    Schniefend nickte er.
    »Mein braver Junge«, sagte sie. »Jetzt geh und putze dir die Schuhe blank.«
    36 Jahre war das her. Fegan dachte nicht gern an die Zeit und dass man sie nie festhalten konnte. Aber manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden. Mit 26 war er ins Loch gekommen und mit 38 wieder raus. Die sieben Jahre danach waren fast unbemerkt verronnen. Fast ein halbes Leben vergeudet. Fegan schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.
    Mit hochgekrempelten Ärmeln saß er am Tisch vor
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