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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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bin, wenn sie kommen. Ich weiß, dass ich wach bin. Und manchmal…«
    Ronnie wartete. »Und manchmal?«
    »Manchmal sehe ich sie sogar am Tag.« Fegan schraubte den Verschluss wieder auf den Kleber. Er sah den anderen nicht an. »Was meint Dr. Brady dazu?«
    Fegan zuckte die Achseln. »Er sagt, es sind Schuldgefühle. Er hat es eine Manifestation genannt.«
    Ronnie wischte sich mit dem Papiertaschentuch den Mund ab und zog eine Augenbraue hoch. »Ziemlich hochtrabendes Wort. Muss wohl was Ernstes sein. Und was glaubst du, was es ist?«
    Fegan durchquerte den Raum und verstaute den Kleber wieder im Schrank. Mit dem Rücken zu Ronnie blieb er stehen. »Als ich klein war, noch bevor mein Vater gestorben war, da habe ich manchmal Dinge gesehen. Menschen. Ich sprach mit ihnen.« Fegan wartete auf eine Antwort, einen Protest, doch es kam keine Reaktion. Also fuhr er fort: »Das habe ich noch nie einem erzählt. Nicht mal Dr. Brady.«
    Einen langen Augenblick wartete er, dann drehte er sich wieder zu Ronnie um. Der alte Mann saß zusammengesunken auf seinem Hocker und starrte das Papiertaschentuch in seinen Fingern an.
    Fegan machte einen Schritt auf ihn zu. »Ronnie?«
    »Du sprichst von den Toten«, sagte Ronnie unvermittelt. Er hustete trocken und spuckte aus, sein Gesicht war jetzt purpurrot. Als er fertig war, wischte er sich die Lippen ab, atmete tief ein und rasselnd wieder aus. »Ich will nichts über die Toten hören. Das Zeug frisst mich auf. Der Asbest, der frisst mich innerlich auf. Du bist in ein paar Wochen hier raus, aber ich schaffe es vielleicht nicht mehr bis dahin. Der Quacksalber hat mir prophezeit, dass ich eines Nachts einfach im Schlaf ertrinken werde, so als würde mir jemand den Kopf unter Wasser drücken. Jede Nacht, wenn ich mich hinlege, bete ich darum, dass ich am nächsten Morgen wieder aufwache. Und ich bete darum, dass der Herr mir gnädig ist, wenn nicht.« Ronnies Schultern bebten, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Du weißt ja, was ich getan habe.«
    Fegan nickte.
    »Also.« Ronnie schniefte und hustete. »Ich will nichts über die Toten hören, Gerry.« Er stand von seinem Hocker auf und schlurfte zur Tür. »Die sehe ich schon noch früh genug.«
    In der Tür blieb Ronnie stehen. Der Wärter durchsuchte seine Taschen. Ronnie blickte noch einmal über die Schulter. »Pass gut auf dich auf, Gerry.« Dann zwinkerte er Fegan zu. »Sonst macht das nämlich keiner.«
    Fegan sah ihn nie wieder. An dem Tag, als Ronnies Tochter ihm die Gitarre brachte, weinte er.
    Die Sonnenstrahlen hinterließen einen strahlenden Glanz auf der Politur der Martin D-2.8. Fegan verstaute die Gitarre wieder in der Ecke und bestaunte noch einmal die Maserung. Der Lack hatte im Laufe der Jahre eine gelbliche Tönung angenommen, was die Gitarre nur umso schöner machte. Fegan hatte sich schon Saiten besorgt für den Tag, an dem er fertig sein würde, einen bronzefarbenen Satz. Er wusste nicht genau, wie man eine Gitarre stimmte, aber das würde er schon herausbekommen.
    Fegan sah auf die Uhr. Das Telefon hatte jetzt die vorgeschriebenen zwei Stunden geladen. Trotz seiner zitternden Hände und dem Pochen hinter seinen Augen gelang es ihm schließlich, das Plastikkärtchen hineinzuschieben, die Batterie darüberzulegen und den Deckel wieder einrasten zu lassen. Die Gebrauchsanweisung lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Couchtisch, und er fuhr mit dem Finger über die kleingedruckten Wörter. Er hielt die grüne Taste gedrückt. Als das Telefon in seiner Hand vibrierte, legte er es auf den Tisch und sah zu, wie das bunte Display eine Reihe von Animationen abspielte.
    Er schaute in seine Handfläche. Die Zahlenfolge war zwar blass, aber immer noch lesbar. Fegan folgte der Gebrauchsanweisung und wählte Marie McKennas Nummer. Er schloss die Augen, lauschte dem Freizeichen und erinnerte sich daran, dass sie ja nicht versprochen hatte dranzugehen. Als sie es doch tat, wäre ihm fast das Telefon aus den Fingern gerutscht.
    »Ich bin’s, Gerry«, meldete er sich.
    Er hörte sie schnaufen. »Ich bin froh, dass du anrufst«, sagte sie. Ihm fiel auf, dass sie ihn duzte. »Ehrlich?«
    »Ja.« Ihre Stimme zitterte kaum merklich. »Ich hatte heute Morgen Besuch.«
    »Von wem?«
    »Ob du es glaubst oder nicht, von Pater Coulter.« Fegan schwieg einen Moment, dann fragte er: »Was wollte er?«
    »Er hat mir geraten, wegzuziehen. Hat gesagt, für Ellen und mich sei das am besten. Seine exakten Worte waren: >Sie ersparen sich

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