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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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gesenktem Kopf ging er weiter. An der Calcutta Street warf er einen raschen Blick nach links und rechts, aber da war nichts. Als er wieder in seinem Haus war, war auch das Gefühl weg.
    Während er darauf wartete, dass der Akku des Telefons auflud, arbeitete er, um sich von seinen dröhnenden Kopfschmerzen abzulenken, an der Gitarre weiter. Im hellen Licht des Fensters polierte er die Bunde mit Stahlwolle. Er hatte sie mit einer abgerundeten Bundfeile und Sandpapier bearbeitet, durch die Blickachse über das Griffbrett geprüft, ob sie gerade waren, und jetzt gab er ihnen einen nach dem anderen noch den letzten Schliff, damit sie ihren spiegelnden Glanz bekamen.
    Beim Arbeiten musste Fegan an Ronnie Lennox denken. Der alte Mann hatte sein Entlassungsschreiben ungefähr zur gleichen Zeit erhalten wie er selbst. Wie Fegan hatte auch Ronnie dieses Schreiben schlaflose Nächte bereitet, allerdings aus anderen Gründen.
    Sie hatten in jenen letzten Tagen oft miteinander gesprochen. Während Fegan die Späne vom Werkstadtboden fegte und Ronnie sich auf einem Hocker ausruhte, redeten sie darüber, was sich draußen alles verändert hatte, über das Karfreitagsabkommen, mit dem vermutlich alle Probleme gelöst waren, und das darauffolgende Referendum. Zwei Jahre, nachdem beide Teile Irlands, der Norden und der Süden, für das Abkommen gestimmt hatten, stand das Maze Prison praktisch leer. Die letzten Insassen bewegten sich in dem Komplex, wie sie wollten. Beide, die Gefangenen und die Wärter, wollten nur noch ihr Ruhe und zählten die Tage.
    Ronny sah Fegan mit wässrigen Augen an und sagte: »Wenn die Sache hält, wenn das Friedensabkommen wirklich Bestand hat, dann müsstest du dich eigentlich mal was fragen.«
    Fegan lehnte den Besen an die Werkbank und kehrte mit einem Handfeger die Späne auf. »Was?«
    »Wenn Frieden ist, wenn wirklich alles vorbei ist, wofür sind wir dann überhaupt noch zu gebrauchen?«
    Fegan wusste keine Antwort.
    Ronnie wandte sich wieder einer akustischen Gitarre zu, die ein Wärter zur Reparatur dagelassen hatte. Der Mann hatte erzählt, sein Sohn treibe ihn damit noch in den Wahnsinn, er liebe die Gitarre mehr als seine eigene Mutter. Als Bezahlung hatte er Ronnie ein paar Sätze Saiten versprochen. Ronnies Gesicht glänzte vor Konzentration, als er die Vorderseite des Korpus an sein Ohr hielt. Er drückte mit den Fingerspitzen auf das Holz und untersuchte es.
    »Aha«, sagte er. »Da fehlt eine Strebe.«
    Ronnie legte die Gitarre mit dem Bauch auf ein Stück Filz, damit die raue Werkbank sie nicht verkratzte. Er hockte sich hin und studierte einen Augenblick lang die Oberfläche, dann sagte er: »Siehst du das? Sie fängt schon an, sich zu wölben.«
    Fegan beugte sich auf der anderen Seite der Werkbank vor. Ronnie roch nach Pfefferminze und Leinsamenöl. Ja, da war es: eine kleine Unebenheit auf der glatten Oberseite der Gitarre. »Ich kann es erkennen«, sagte er. Er fuhr mit den Fingern über das samtglänzende Zedernholz.
    Fegan griff in das Schallloch der Gitarre und tastete nach der lockeren Strebe im Korpus. »Kleben und festklemmen?«, fragte er.
    »Das müsste hinhauen.« Ronnie hustete und spuckte in ein Papiertaschentuch, sein Gesicht wurde rot. »Sei so gut und hol uns das Acrylharz her«, bat er.
    Fegan ging zum Vorratsschrank und fand eine Flasche mit dem Kleber. Er brachte sie Ronnie, aber der Alte schüttelte den Kopf und ließ sich auf seinem Hocker nieder.
    »Mach du mal«, sagte er. »Tupf ein bisschen auf den Spachtel da und schmier es rein.«
    Fegan zögerte. »Bist du sicher?«
    Ronnie nickte. Fegan machte sich ans Werk und Ronnie zusah. Mit raspelnder Stimme summte er eine alte Jazzmelodie. Fegan erkannte, dass es »Misty« war. Ronnie hatte ihm das Lied einmal auf der Gitarre vorgespielt und erzählt, dass Clint Eastwood einen Film darüber gemacht hatte.
    Während Fegan den G-Wirbel anzog, um die festgeklebte Strebe festzuklemmen, fragte Ronnie: »Schläfst du inzwischen besser?«
    »Nein«, sagte Fegan.
    »Immer noch diese Träume?«
    Mit einem Papiertuch wischte Fegan den überschüssigen Kleber ab. Er gab keine Antwort. »Brauchst mir ja nichts zu erzählen«, grummelte Ronnie. Er hustete und grinste. »Mir doch egal.«
    »Es ist nur …« Fegan knüllte das Papiertuch zusammen und warf es auf die Werkbank. »Es ist nur so, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es überhaupt Träume sind.«
    Ronnie kratzte sich das stoppelige Kinn. »Warum?«
    »Weil ich wach

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