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Die Schattenflotte

Die Schattenflotte

Titel: Die Schattenflotte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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er von der Straße her einen hysterischen Schrei.
    Ein kurzer Blick aus dem Fenster genügte Sören, um zu begreifen, was geschehen war. Zugleich durchfuhr es ihn, dass er selbst ziemlich in der Patsche saß. Zumindest dann, wenn der Mann, dessen verbogene menschliche Umrisse er eben auf dem Pflaster der Straße erblickt hatte, Waldemar Otte war. Für eine Schrecksekunde konnte Sören keinen klaren Gedanken fassen. Der Tote dort unten   …, der Kerl auf der Treppe, der es auffallend eilig gehabt hatte   … Keine Frage, er war soeben Zeuge eines Verbrechens geworden.
    Das Herz schlug Sören bis zum Hals. Er verfluchte augenblicklich seinen Beschluss, hierherzukommen. Niemand würde ihm Glauben schenken. Dem Anwalt Dr.   Sören Bischop vielleicht, aber nicht dem Vater von David,der aufgrund von Ottes Aussage in Untersuchungshaft saß. Und nun war dieser Zeuge vermutlich tot. Aus dem Fenster geworfen – von ihm, dem Besucher. Das zumindest würde der Empfangschef behaupten. Auch wenn es absurd war, denn wenn man jemanden töten wollte, dann stellte man sich wohl nicht mit seiner Visitenkarte an der Rezeption vor. Aber man würde ihn womöglich beschuldigen, den Gast im Streit aus dem Fenster gestoßen zu haben.
    Das Geschrei von der Straße wurde lauter. Sören überlegte nicht lange. Er musste hier raus. Und zwar schnell. Als Sören die Treppe erreicht hatte, hörte er bereits aufgebrachte Stimmen von unten. Er vernahm, wie mehrere Leute mit eiligen Schritten die Treppe heraufliefen. Man durfte ihn nicht erwischen. Es widerstrebte ihm, aber in diesem Fall hatte er keine andere Wahl. Die kleine Tür in der Treppenhausnische, die das Zimmermädchen vorhin benutzt hatte, war unverschlossen.

Rätselhafte Papiere
    Die frische Luft tat gut. Sören blieb einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Das Zittern hatte sich etwas gelegt, aber sein Herz schlug wie wild. Bisher war er nicht aus der Gefahrenzone. Sören blickte auf die Tordurchfahrt, die ihn von dem Tumult auf der Straße trennte. Er kam sich vor wie ein Verbrecher auf der Flucht. Aber es schien ihm niemand gefolgt zu sein. Niemand hatte bemerkt, wie er sich über das kleine Nebentreppenhaus mit der engen Wendeltreppe davongemacht hatte. Jetzt nur kein auffälliges Verhalten zeigen. Wenn er auf die Straße trat, musste er neugierig wirken. So, wie jeder andere auch. Sören hoffte, dass das Gedrängel um den leblosen Körper groß genug war und dass ihn niemand aus dem Hotel wiedererkannte. Der Empfangschef etwa. Ein Fehler, sich ihm vorzustellen, wie er sich jetzt eingestehen musste. Aber hätte er da schon ahnen können, was folgte? Vielleicht erinnerte er sich gar nicht an seinen Namen. Vielleicht. Sören schlug den Kragen hoch und schritt auf die Straße.
    Es war, wie er vermutet oder vielmehr gehofft hatte. Eine beträchtliche Anzahl Passanten stand im Kreis um den zerschmetterten Körper auf dem Pflaster und diskutierte aufgeregt. Sören vernahm die Frage einer älteren Frau, ob der Mann tot sei. Ein jüngerer Mann, der sich über den Körper gebeugt hatte, bejahte das. Andere kamen und stellten die gleichen Fragen. Jeden Augenblickmusste eine Sanitätsmannschaft oder ein Wachtmeister auftauchen. Von den Hotelbediensteten war niemand zu sehen.
    Immer noch strömten Passanten aus der Nähe neugierig zum Ort des Geschehens, um einen Blick auf den Unglücklichen zu werfen. Die meisten wendeten sich danach zwar schockiert ab, blieben aber gleichwohl vor Ort, um das weitere Geschehen mitverfolgen zu können. Sören zwang sich ebenfalls zu bleiben, bis sich die Neugierde gelegt hatte und die Menge sich auflöste. Immer wieder suchte sein Blick die Menschentraube nach einem Gesicht von jemandem ab, der ihn erkannt haben konnte. Und dann sah er ihn. Den Mann von der Treppe.
    Er stand etwas abseits und blickte teilnahmslos auf den Toten. Vorhin hatte er ihn nicht so genau in Augenschein nehmen können, alles war zu schnell gegangen. Doch Sören fiel es schwer, irgendwelche Besonderheiten an der Person zu erkennen. Hose und Gehrock aus schwarzer Wolle, eine unscheinbare Erscheinung, ein Allerweltsgesicht mit Kaiserbart, wie ihn fast jeder trug. Buschige Augenbrauen, der Ansatz einer Hakennase, etwas zu kleine Ohren, mehr Auffälligkeiten gab es eigentlich nicht. Der kurze Moment, in dem sich ihre Blicke vorhin getroffen hatten, hatte jedoch ausgereicht, um ihn zweifelsfrei wiederzuerkennen.
    Plötzlich blickte der Kerl auf und schaute Sören mit funkelnden

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