Die Schattenflotte
Augen an. Sörens Hals war wie zugeschnürt. Er wagte nicht, sich zu rühren, erwartete jeden Moment, dass der Kerl mit dem Finger auf ihn zeigen und rufen würde: Der da! Der hat’s getan! Aber nichts desgleichen geschah. Der Mann blickte ihn nur an. Es war ein stechender, durchdringender Blick. Sören war sich augenblicklich sicher, ihn nie vergessen zu können. Dann zeichnete sichder Anflug eines Lächelns auf den Lippen des Mannes ab. Es war ein Lächeln, das einem Eingeweihten galt.
Aber was hatte Sören gegen ihn in der Hand? Er war es, den man verdächtigen würde, sollte er jetzt die Hand heben und die Leute auf den Kerl aufmerksam machen. Nein, ihn selbst würde man als denjenigen identifizieren, den man zu Waldemar Otte aufs Zimmer geschickt hatte. Und der Blick des Kerls signalisierte, dass er das auch wusste.
Während Sören überlegte, wie er dem Mann am unauffälligsten folgen konnte, entdeckte er auch den Empfangschef des Hotels, der inzwischen auf die Straße gekommen war. Er stand direkt neben dem Kerl, der sich ihm in diesem Moment zuwendete und ihn ansprach. Dann streckte der Mann mit der Melone den Arm aus und deutete mit dem Finger in Sörens Richtung. Sören überkam Panik. Am liebsten wäre er sofort losgerannt, aber er zwang sich zur Ruhe. Die Menschentraube begann sich aufzulösen, und Sören nutzte die Gelegenheit, mischte sich unter die Menge und machte sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub.
Erst nachdem er sich mehrfach vergewissert hatte, dass ihm wirklich niemand gefolgt war, betrat er seine Kanzlei an der Schauenburgerstraße und ließ sich völlig erschöpft und gleichwohl erleichtert in den großen Lehnstuhl vor der Bücherwand fallen. Es war ihm, als könne er erst jetzt wieder richtig durchatmen. Gedankenversunken massierte er seine Schläfen und versuchte, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Sören ärgerte sich maßlos über sich selbst, über seine unbegründete Panik, sich bloß nicht am Tatort erwischen zu lassen. Mit seiner Flucht hatte er sich nur noch verdächtiger gemacht. Niemand würde ihm Glauben schenken, wenn er den Versuch unternahm, imNachhinein die Geschehnisse ins rechte Licht zu rücken. Und der Empfangschef würde sich ganz bestimmt an ihn erinnern. Spätestens bei einer Gegenüberstellung – und dass man auf ihn, den Vater desjenigen, der aufgrund einer Aussage von Otte in Untersuchungshaft saß, kommen würde, lag auf der Hand. Es war eine bloße Frage der Zeit. Er saß ganz gewaltig in der Patsche.
Erst das Schlagen der Standuhr riss ihn aus seinen Grübeleien. Es war bereits fünf Uhr. Zu lange durfte er nicht bleiben. Wenn sich der Empfangschef an die Adresse auf seiner Karte erinnerte, dann würde es nicht lange dauern, bis die Polizei eintraf. Fräulein Paulina war bereits gegangen und hatte die Korrespondenz wie immer auf seinen Schreibtisch gelegt. Sören kontrollierte rasch die Umschläge, ob etwas Dringendes darunter war, dann löschte er das Licht und machte sich auf den Weg. Eine knappe halbe Stunde später betrat er den Convent Garten über den Eingang an der Fuhlentwiete, der zum unteren Saal führte. Wenn die Probe noch nicht vorbei war, dann konnte er Tilda hier am besten abfangen.
«Und was gedenkst du nun zu tun?», fragte Tilda, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Es kam selten vor, dass sich Sorgenfalten auf ihrem Gesicht abzeichneten. Jetzt blickte sie Sören fast ängstlich an.
«Ich weiß es nicht. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf, aber ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken fassen.»
«Glaubst du, man wird dich verhaften?»
Natürlich bestand diese Möglichkeit, aber er wollte Tilda nicht unnötig ängstigen. Sie wirkte so zerbrechlich in diesem Moment. Schützend legte er den Arm um sie und zog sie sanft zu sich heran. «Nein», flüsterte er. «Wirmüssen abwarten. Vorerst sind mir die Hände gebunden.»
Sie presste den Kopf an seine Brust. «Du musst dir etwas einfallen lassen.»
«Sicher, das werde ich. Lass uns nach Hause fahren und in Ruhe überlegen …»
«Kommt überhaupt nicht in Frage», fiel Tilda ihm ins Wort. «Dort wird man zuerst nach dir suchen. Am besten ist es, du tauchst erst einmal unter.» Sie entzog sich seiner Umarmung und sah ihn nachdenklich an. «Lass mich überlegen … Du könntest doch für eine Weile im Haus deiner Mutter unterkommen. Ich werde mich mit Agnes schon arrangieren.»
Sören schüttelte den Kopf. «Das ist doch
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