Die Schattenflotte
Pares. So hatte er etwa den neuen Firmensitz der Laeisz-Reederei gebaut, und auch hier unten am Zollkanal reihten sich von ihm entworfene Kontorhäuser wie Perlen an einer Schnur: Dovenhof, Nobelshof sowie der Neubau der Transport AG am Zippelhaus.
Bestimmt war er auch der Architekt des bisherigen Firmensitzes der Hapag am Dovenfleeth gewesen. Das folgerte Sören zumindest aus dem ganzen Renaissance-Zierrat, der über die Fassade verteilt war wie auf einer Hochzeitstorte. Spätestens die verspielte Dachlandschaft mit kleinen Giebelchen, Erkern und einem krönenden Eckturm verwies auf Haller. Und über allem wehte die Flagge der Reederei in leichten Windstößen. Unbeeindruckt blickte Sören an der Fassade empor. Ein einziges Fenster über dem Portal war von Bauschmuck eingerahmt wie das Herrscherzimmer einer fürstlichen Residenz. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Albert Ballin genau dort sein Büro.
Sören sollte mit seiner Vermutung recht behalten, aber als er das Zimmer betrat, war er doch überrascht. Er musste nur wenige Minuten warten, bis er zu Ballin vorgelassen wurde. Der Raum wirkte überfrachtet und düster. Die Wände waren bis zur Schulterhöhe mit dunklen Holzpaneelen getäfelt und darüber mit grüner Seide bespannt. Obwohl es noch helllichter Tag war, brannten bereits die tulpenförmigen Gasleuchten, zwischen denen gerahmte Fotografien der bedeutendsten Hapag-Schiffe hingen.Beherrscht wurde der Raum von einer übergroßen Ledergarnitur im englischen Stil, gegenüber der selbst Ballins massiver Schreibtisch zierlich aussah. Albert Ballin wirkte fast verloren zwischen dem düsteren Mobiliar. Erst jetzt fiel Sören auf, wie klein der Mann doch war. Gerade, auf den Zehenspitzen stehend, hätte er über die hohen Rückenlehnen der messingbeschlagenen Ohrensessel hinwegblicken können. Ballin forderte Sören auf, Platz zu nehmen, und bat seinen Sekretär, einen Tee zu bringen.
«Zu klein, mein lieber Doktor Bischop. Einfach zu klein», antwortete Ballin auf die Frage nach dem Grund des bevorstehenden Umzugs. «Ich hoffe, wir können den Neubau am Alsterdamm Ende des Jahres beziehen. Wir platzen aus allen Nähten.» Er rückte seinen Rock zurecht und strich sich lachend über den Bauch. «Im wahrsten Sinne des Wortes: Den Wintermonaten muss man Tribut zollen. Wenn man schon von kleiner Statur ist, gereicht einem jedes Gramm zu viel zum Nachteil.»
Ballin hatte seine Verstimmtheit von vorhin ganz offensichtlich vergessen. Seine Augen blickten Sören prüfend an, als wollte er erkunden, wie die selbstironische Komik von seinem Gast aufgenommen wurde. Auf Distanz schien Ballin keinen Wert zu legen. Während er sprach, beugte er sich weit über den Tisch, wobei auffiel, dass er seinen Kopf stets etwas schief hielt. So, als könnte er auf dem einen Ohr nicht sonderlich gut hören. Seine Mimik war phänomenal. Mathilda hatte recht gehabt, die Natur hatte es mit diesem Mann wirklich nicht gut gemeint. Nicht nur, dass er gnomenhaft klein wirkte, nein, seine Gesichtszüge wurden durch die dicken, geschwollenen Lippen und die fast kürbisartige Nase entstellt. Ganz im Gegensatz zu dieser Hässlichkeit stand der sanfte, fast ständig fragende Blick aus seinen freundlichen, dunkelbraunen Augen.Auch der Wohlklang seiner sonoren Stimme mochte nicht zum Rest seiner Erscheinung passen.
«Die Hapag hat im vergangenen Geschäftsjahr annähernd fünf Millionen Kubikmeter Frachtladung transportiert. Die Größenordnung ist so gewaltig, dass mir kein räumlicher Vergleich einfiele, der das Volumen auch nur annähernd verständlich machen könnte.» Ballin gab einen kurzen Seufzer von sich. «Es fällt mir zunehmend schwer, alles im Blick zu behalten. Das war bislang meine Devise.»
Sein Versuch, mit den Schultern zu zucken, erinnerte Sören an die mechanisch eingeschränkte Bewegung eines hölzernen Hampelmanns. Ballins große Hände und seine viel zu kurzen Arme schienen für den Bruchteil einer Sekunde außer Kontrolle zu geraten, und Sören erwartete bereits, sie könnten über seinem Kopf zusammenschlagen, aber die Geste endete nur mit dem Verrutschen von Ballins Weste. «Wahrscheinlich tanzen wir inzwischen einfach nur auf zu vielen Hochzeiten. Mit diesem Vorwurf werde ich fast täglich konfrontiert. Aber was soll ich machen? Angefangen hat alles mit der Aufnahme der Ostasienfahrten, dem Paketdienst. Das ist ja nicht gleich um die Ecke. Um die Zustände vor Ort kontrollieren und einschätzen zu können, bedarf es
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