Die Schattenflotte
Inzwischen war ja der Kaiser Wilhelm der Große in Stettin vom Stapel gelaufen. Und das Schiff ist nun wirklich schnell. Von Southampton nach Sandy Hook hat der Lloyd nur fünf Tage und zwanzig Stunden benötigt. Das war natürlich ein Desaster für Schichau.»
«Und was hat die Hapag mit dem Schiff zu tun?»
«Wir hatten das Schiff vor zwei Jahren für einige Fahrten unter Charter. Aber es war eine Katastrophe: zu langsam, zu hoher Verbrauch, und die Ausstattung ließ auch zu wünschen übrig.»
Sören erinnerte sich, in Ottes Papieren etwas von 24 Knoten und 50 000 PS gelesen zu haben. «Wird es denn in absehbarer Zeit eine Neuauflage der Transatlantik-Wettfahrten zwischen Hapag und Lloyd geben?»
«Wie kommen Sie darauf? Nein, ganz sicher nicht. Die Schnellpassagen überlässt die Hapag schon seit einiger Zeit dem Lloyd. Für uns heißt die Devise: Fracht vor Passagierfahrt. Außerdem ziehen wir mit dem Lloyd inzwischen an einem Strang. Der ruinöse Ratenkrieg zwischen den Gesellschaften hat ein Ende. Seit zwei Jahren fahren wir sogar im gemeinsamen Liniendienst nach Ostasien. Im Wechsel. Natürlich geben wir das Passagiergeschäft nichtganz auf, aber die Passagen auf unseren Schnelldampfern gehören nicht mehr zum Kerngeschäft. Entsprechend gibt es auch keine Wettfahrten mehr. Als der Lloyd den Kaiser Wilhelm der Große in Dienst stellte, haben wir die ersten P-Dampfer geordert.» Ballin deutete auf ein Foto an der Wand.
«Es sind in erster Linie Frachtschiffe, auf denen wir aber auch eine begrenzte Anzahl vorzüglicher Kabinen haben. Da wir die Reisegeschwindigkeit und damit auch den Kohleverbrauch herabgesetzt haben, können wir unsere Kapazitäten wesentlich effizienter nutzen und haben uns gleichzeitig eine neue Klientel gesichert, die mehr Wert auf Luxus und Reisekomfort legt als auf eine möglichst schnelle Überfahrt. Die halsbrecherischen Fahrten auf den Schnelldampfern sind ja häufig genug mit gewissen Einbußen verbunden, was das körperliche Wohlbefinden der Passagiere betrifft. Es ist eben nicht jedermanns Sache, mit mehr als 20 Knoten Geschwindigkeit durch kabbeliges Meer zu stampfen. Ich selbst empfinde dabei auch häufig genug Unbehagen.»
Ballin ging zu einer anderen Fotografie, die ein kleineres Schiff mit dem eleganten Bug eines Klippers zeigte. «Ein ganz anderer Sektor, auf den wir uns in Zukunft noch mehr konzentrieren wollen, ist die Lust- und Promenadenfahrt. Dafür lassen wir First-Class-Dampfer wie die Prinzessin Victoria Luise bauen.»
Sören ging näher an die Abbildung heran und betrachtete das Schiff. Dann fiel ihm ein, dass Martin vorhatte, im nächsten Monat eine Kreuzfahrt auf so einem Schiff der Hamburg-Amerika Linie zu machen. «Und diese Schiffe lassen Sie auch nicht bei der Schichau-Werft bauen?»
Ballin reagierte etwas zu heftig. «Herr Doktor Bischop. Ich wiederhole mich nur ungern. Es gibt zurzeit keinerleiVerträge zwischen der Hapag und der Schichau-Werft.» Ballins Augen blitzten nervös auf. «Unsere P-Dampfer geben wir seit Anbeginn auch bei Harland & Wolff in Belfast in Auftrag, und unser Kreuzfahrer ist hier im Hafen bei Blohm + Voss vom Stapel gelaufen. So, wie die meisten unserer Schiffe. – Darf ich Sie jetzt fragen, wer auf die Idee kommt, es gäbe irgendwelche vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Hapag und der Schichau-Werft?» Ballin fixierte Sören ungeduldig.
«Ich möchte meinen Mandanten, wie Sie sicher verstehen werden, nicht namentlich ins Spiel bringen, aber es handelt sich um ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Schiffsmotoren versteht. Vor einiger Zeit gab es eine Anfrage der Schichau-Werft bezüglich der Kosten für ein neumodisches Antriebsaggregat, dessen Einsatz man für den Bau eines größeren Schiffes in Erwägung ziehen würde. Als Kommittenten des in Aussicht gestellten Auftrags nannte die Werft meinem Mandanten gegenüber die Hapag, und da sich das Auftragsvolumen in einer Größenordnung bewegt, die selbst für einen Kostenvoranschlag gewisse Vorinvestitionen erforderlich macht, bat man mich um eine wohlwollende Prüfung.»
Ballins Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. «Das ist absurd», reagierte er merklich. Auch wenn er sich Mühe gab, seinem Gast gegenüber höflich zu bleiben, war nicht zu übersehen, dass er verärgert war. «Und was hat der Kaiser Friedrich damit zu tun?»
Sören hatte den Eindruck, dass Ballin die Sache zu schaffen machte. «Der Name des Schiffes fiel in
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