Die Schattenflotte
entziffern. Er registrierte nur, dass der Kaiser Barbarossa nach diesem Stopp in Richtung Süden abdrehte, sie selbst jedoch weiter auf Kurs Helgoland blieben.
Als er dem sich entfernenden Schiff nachblickte, bemerkte Sören erst, dass an dessen Heck kein Name stand. Genau wie bei diesem Schiff. Das hatte er bereits am Morgen festgestellt, dem aber keine weitere Bedeutung beigemessen, da das Schiff ja in Wilhelmshavenseine endgültige Ausrüstung erhalten sollte. Er hatte angenommen, man würde erst dann den Schiffsnamen auf Heck und Bordwände malen. Ein Trugschluss, wie er sich jetzt eingestehen musste, denn der Barbarossa war ebenfalls namenlos, und beide Schiffe glichen sich wie ein Ei dem anderen. Das war ganz offensichtlich kein Zufall, zumal der Barbarossa die Route eingeschlagen hatte, die ursprünglich für dieses Schiff vorgesehen gewesen war: Wilhelmshaven. Dem Gespräch zwischen von Tirpitz und Admiral von Koester hatte er ja bereits entnehmen können, dass sie ein anderes Ziel als das geplante ansteuern würden. Was führte man im Schilde, und wohin fuhr das Schiff? Sören brauchte nicht lange zu rätseln.
«Meine Herren», begann von Tirpitz kurz darauf, «ich möchte Ihnen genauer darlegen, was wir im weiteren Verlauf der Fahrt zu tun beabsichtigen und warum wir das Schiff nicht, wie ursprünglich geplant, in den kaiserlichen Marinehafen von Wilhelmshaven überführen werden.»
Auf den Gesichtern der Anwesenden zeichnete sich Überraschung und auch ein wenig Beunruhigung ab. «Sie brauchen keine Bedenken zu haben, was Ihren Rücktransport betrifft», ergänzte er. «Dafür haben wir bereits Sorge getragen. Sie werden Hamburg wie geplant mit einem Zug erreichen, nur eben nicht von Wilhelmshaven aus.»
Er wartete einen Augenblick, aber niemand machte Anstalten, Einwände zu erheben. «Wie Sie ja inzwischen mitbekommen haben, handelt es sich bei dem hiesigen Schiff um kein gewöhnliches Linienschiff. Es wurde auf unseren Wunsch mit einigen Besonderheiten ausgestattet. Darauf werde ich gleich noch im Einzelnen zurückkommen. Auf jeden Fall ist es nicht in unserem Sinn, dass die Neuerungen und technischen Details andie Öffentlichkeit gelangen. Wie Sie sicher wissen, wird unsere Flottenrüstung von fremden Nationen scharf beäugt. Insbesondere England hat großes Interesse daran, über jedwede Entwicklung und die technischen Details unserer Schiffe auf dem Laufenden zu sein. Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass unsere militärischen Häfen auch von fremden Augen sehr genau beobachtet werden, und unsere Linienschiffe lassen sich allein aufgrund ihrer Größe kaum vor diesen Blicken verbergen. Das Schiff, das am späten Nachmittag bei einsetzender Dämmerung vor Wilhelmshaven auf Reede gehen wird und erst bei Dunkelheit in den Hafen überführt werden soll, wird sich diesen fremden Blicken als der neue Kaiser Karl der Große zu erkennen geben.»
Ein sanftes Raunen machte sich unter den Männern auf der Brücke breit.
«Da wir davon ausgehen müssen, dass nicht nur die militärischen Anlagen in Wilhelmshaven, sondern alle Marinehäfen und deren Werften unter genauester Beobachtung stehen, hat sich der Marinestab dazu entschlossen, einen großen Teil des Marinebauprogramms an private Werften abzugeben – zusätzlich zum bisherigen Programm, versteht sich. Durch diese Maßnahme werden wir die Flottenstärke in den nächsten fünf bis sechs Jahren um schätzungsweise zehn Prozent gegenüber dem offiziellen Bauprogramm steigern können.
Sie werden sich jetzt sicherlich fragen, wie das zu finanzieren ist, aber ich kann Sie beruhigen. Für die Finanzierung ist natürlich gesorgt, die nötigen Gelder werden dem Reich als Darlehen von führenden Institutionen aus Wirtschaft und Industrie zur Verfügung gestellt, die, wie jeder im Reich, von unserem Flottenbauprogramm profitieren.»
Dem nun einsetzenden Gemurmel zollte von Tirpitz mit einer kurzen, rhetorischen Pause Tribut, dann setzte er seinen Vortrag fort.
«Um das zusätzliche Bauprogramm der Marine so lange wie möglich vor fremden Augen zu verbergen, wurde uns vonseiten der beiden größten deutschen Handelsreedereien Unterstützung in der Form zugesagt, dass die Neubauten offiziell als deren Kiellegungen von in Auftrag gegebenen Handelsschiffen deklariert werden können. Zusätzlich zu dieser Maßnahme werden wir die Einführung neuester technischer Entwicklungen, wie sie erstmals an diesem Schiff durchgeführt wurden, in Zukunft vorrangig beim
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