Die Schattenfrau
weiter, blieben die Gegensätze bestehen.
»Ich glaube, das gehört zusammen«, hörte er Börjesson sagen.
Winter drehte sich um. Er blinzelte, um das Sonnenlicht aus den Augen zu bekommen.
»Ich weiß zwar nicht, was genau das hier sein soll«, fuhr Börjesson fort, »aber es scheint mir zu viel des Zufalls, dass das Zeichen zur gleichen Zeit dort hingekommen sein sollte wie... die Leiche.«
»Gut.« Winter konnte endlich wieder Börjessons Gesicht erkennen. Der Junge wirkte nun wie ein Mann, wie ein Erwachsener. Geistig beweglich, die Gedanken standen nicht still.
»Ich würde versuchen herauszufinden, ob in derselben Gegend auch Satanskult betrieben wurde.«
»Satanisten?«, fragte Börjesson.
»Die mögen den Wald. Das Leben im Freien.«
»Dann könnte es wohl von so was sein.«
»Schau dir das Zeichen noch mal genauer an«, bat Winter, während er um den Schreibtisch herumging und sich neben Börjesson stellte. »Was meinst du, woran das dich erinnert?«
Der junge Kriminalbeamte hob das Bild hoch. Erst hielt er es auf Armlänge von sich, dann führte er es näher zum Gesicht und legte es wieder auf den Tisch. Zwei senkrechte Linien, die in der Mitte von einer waagerechten durchschnitten wurden. Aber die Farbe war verlaufen und hatte vielleicht die ursprüngliche Form des Zeichens oder der Mitteilung verändert.
»Es könnte ein H sein«, meinte Börjesson.
»Ja«, sagte Winter.
»Glaubst du das auch?«
»Es ähnelt einem H«, antwortete Winter.
»Oder irgendeinem chinesischen Schriftzeichen.«
»Das ist eine gute Idee.«
»Chinesische Zeichen bedeuten immer etwas«, erklärte Börjesson. »Ich meine... über das Wort hinaus. Mehr wie eine Sache. Ein Ding.«
»Hast du Chinesisch gelernt?«
»Auf dem Gymnasium, ein paar Jahre. Ich bin in den humanistischen Zweig am Schillerska gegangen.« »Und dann bist du Polizist geworden?« »Ist daran was falsch?«
»Im Gegenteil«, wehrte Winter ab. »Wir brauchen alle Humanisten, die wir bekommen können.«
Börjesson lachte auf und schaute sich das Foto nochmals an. »Ich könnte es mit den Schriftzeichen in meinen Büchern vergleichen. « »Wie viele gibt es?«
»Zehntausende, aber nur einige tausend werden im Alltag gebraucht.«
Winter antwortete nicht. Auch er starrte konzentriert das Zeichen am Baum an. Er wollte noch einmal zurückfahren, um die Konturen des Baums zu studieren. Es schien, als wäre derjenige, der es auf den Stamm gemalt hatte, den Konturen gefolgt. Ihm war, als hätte der Stamm genau an dieser Stelle eine Narbe von einer früheren Verletzung, einem Schnitt. Unter der Narbe ragte ein schwacher Trieb aus dem Stamm. Das Zeichen sah aus, als gehörte es zu dem Baum.
Er würde hinfahren und nachsehen. Von dem Bild schien eine urwüchsige Kraft auszugehen, die mächtige Kraft einer anderen Welt: einer Welt des Bösen. Wie eine Mitteilung aus einer anderen Zeit, vollendet vor einigen Stunden, als ein Frauenkörper unter diesen Baum gelegt worden war.
Winter schüttelte sich leicht. Es ging wieder los, die Gedanken kreisten unaufhörlich in seinem Kopf.
Für ihn sah das Zeichen wie ein H aus. Ein merkwürdiger Zufall. Bei sich hatte Winter die Frau nach der Häuseransammlung in der Nähe des Fundorts genannt: Helenevik, Helene.
Für ihn war sie bereits Helene gewesen - Stunden, bevor er ernstlich das Zeichen an dem Baumstamm studiert hatte. Helene. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm dieser Name helfen würde festzustellen, wer die tote Frau eigentlich war.
Sie war tot, und Tote haben keine Freunde, aber er wollte ihr Freund sein, bis sie ihren Namen zurückbekäme.
12
Winter strich sich über das Kinn. Es fühlte sich weich an, und die Wangen wie eingefallen. Er war allein in seinem Büro. Draußen war das Tageslicht ganz schwach. Es war unterwegs zu einem anderen Teil der Welt.
Und drinnen war alles schwarz und weiß, ohne Grautöne, die Zettel am Merkbrett an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch nichts als leere Rechtecke.
Er blieb in der Stille sitzen. Plötzlich schien es überall so ruhig zu sein. Er fühlte sich müde, ein überwältigendes Gefühl, das gut zu der Stille des Zimmers passte. Jetzt gibt es nichts mehr, was wir machen könnten, dachte er. Wir haben getan, was wir für Helene in diesen ersten Stunden tun konnten.
Winter schloss die Augen und verlor sich in Gedanken. Er sah ein Kindergesicht vor sich und öffnete die Augen wieder. Aber immer, wenn er sie zumachte, sah er das Gesicht. Das Haar hatte
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