Die Schattenfrau
zuvor. Sie schloss die Augen, um nicht plötzlich einen Schatten im Fenster sehen zu müssen, eine Bewegung. Mein Gott, ich stehe hier und bin völlig durcheinander, dachte sie. Ein Schauder überlief sie, ein erschreckendes Gefühl, als verlöre sie kurz die Kontrolle über sich. Dann aber war es vorüber und sie war wieder sie selbst.
Karin Sohlberg kam sich dumm vor, als sie bei der Familie Athanassiou in der Wohnung darunter klingelte. Der Mann machte auf. Ein bekanntes Gesicht. Sie fragte, so einfach sie konnte, nach der Frau und dem Mädchen über ihm. Doch der Mann schüttelte zur Antwort den Kopf. Sie hätten die beiden eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber wer konnte schon sagen, wann das letzte Mal? Nein, gehört hatten sie auch nichts. Sie waren immer leise gewesen da oben, solange sie hier wohnten. Das Mädchen war vielleicht gelegentlich herumgehüpft, aber das war nicht weiter schlimm. Meine Decke ist der Fußboden von jemand anders, hatte der Mann gesagt und nach oben gezeigt, und Karin Sohlberg hatte an einen griechischen Philosophen denken müssen.
Karin Sohlberg wollte noch einmal zum Infobrett gehen, irgendetwas zog sie dorthin. Sie kam an Ester Bergmans Fenster vorbei und blieb stehen, als sie die alte Frau hinter der Scheibe entdeckte. Ester Bergman machte das Fenster auf, aber Karin Sohlberg verriet ihr nichts davon, dass die Miete bezahlt war. Sie wusste nicht, warum. Vielleicht wollte sie der alten Frau das Gefühl nicht nehmen, dass einmal etwas Aufregendes in ihrem Leben passierte. Vielleicht will ich mir selbst das Gefühl erhalten, gestand sie sich ein.
Von dem Aushang schrieb sie dann die Telefonnummer des Fahndungsdezernats der Bezirkskripo ab.
Frau Bergman hatte nämlich gesagt, sie wolle einen Brief an die Polizei schreiben, und hatte gefragt, ob Karin Sohlberg ihr dabei helfen könne? Sie habe gerade den Entschluss gefasst.
»Wenn Sie die Polizei benachrichtigen wollen, Frau Bergman, dann können Sie auch anrufen«, hatte Karin Sohlberg geantwortet. »Ich helfe Ihnen gerne dabei.«
»Ich mag nicht telefonieren, da kommt nichts bei raus.«
27
Karin Sohlberg saß bei Ester Bergman in der Wohnung, wo der Regen leise ans Küchenfenster klopfte, und dachte darüber nach, dass dies praktisch die Welt der alten Frau war. Oder war das ein Vorurteil? Ester Bergman war ständig in dieser Küche, an ihrem Fenster. Da musste sie allerhand mitbekommen haben. Kein Wunder, dass sie einige Gesichter vermisst hatte. Gesichter und vielleicht Stimmen - die sie sah und hörte, aber nicht kannte - waren ihre Welt.
Kindergeschrei drang an ihr Ohr, aber wie von weit her. Die ganze Welt war hinter diesem Glas, das am unteren Rand beschlagen war und über das im oberen Teil die rinnenden Regentropfen Streifen zogen. Durchs Fenster konnte sie nicht nur leise Stimmen hören. Sie sah die Kinder, die sich wie verschwommene Farbtupfer auf dem Spielplatz bewegten. Mit dem Regen sind auch die Farben zurückgekehrt, fiel ihr auf. Karin Sohlberg wandte sich vom Fenster ab und Ester zu. »Was soll ich denn schreiben?«
»Schreiben Sie, dass wir uns fragen, wo die Mutter und ihr kleines Mädchen sind.«
»Wir sollten vielleicht den Aushang über die... tote Frau erwähnen.«
»Sie können ja schreiben, dass wir den Aushang gelesen haben«, stimmte Ester Bergman ihr zu. »Und dass die Mutter blond ist.«
»Ja.«
»Und vergessen Sie nicht anzugeben, in welchem Hof sie wohnen.«
»Nein.«
»Mein Alter brauchen Sie aber nicht anzugeben.«
Karin Sohlberg lächelte und sah von dem Briefbogen auf, den Ester Bergman ihr gegeben hatte. Sie hatte ihn einem hübschen Sekretär im Wohnzimmer entnommen.
»Wir brauchen gar kein Alter anzugeben.«
»Sie können aber hinschreiben, wie alt die Frau und das Mädchen sind«, schlug Ester Bergman vor. »Das ist wichtig, damit da kein Missverständnis aufkommt.«
»Ja, das schreibe ich auch dazu.«
»Vergessen Sie nicht, dass die beiden schon länger weg sind. Lange bevor es zu regnen angefangen hat.«
»Wir wissen aber doch nicht ganz gen... «
»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen. Aber ich versichere Ihnen, genau so ist es.«
»Okay.« Karin Sohlberg zögerte. Welches Recht hatte sie eigentlich, sich in Helene Andersens Privatleben einzumischen? Vielleicht wollte die Frau einfach ihre Ruhe haben, das war doch normal. Das Mädchen war auch noch nicht so alt, dass es zur Schule gehen musste.
Ihr fiel ein, dass sie sich umhören könnte, ob das Mädchen in
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