Die Schattenhand
Polizei?»
«Ganz und gar nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Deshalb werde ich einen Experten heranziehen.»
Ich schüttelte den Kopf.
«Das können Sie nicht. Scotland Yard übernimmt Fälle nur dann, wenn der Polizeidirektor der Grafschaft es beantragt. Außerdem haben sie schon Graves geschickt.»
«So einen Experten meine ich nicht. Nicht jemanden, der sich mit anonymen Briefen oder meinetwegen auch Mord auskennt. Ich meine jemanden, der die Menschen kennt. Begreifen Sie nicht? Wir brauchen jemanden, der etwas von Niedertracht versteht!»
Es war ein eigenwilliger Standpunkt. Trotzdem, er hatte etwas Erfrischendes.
Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, nickte Mrs Dane Calthrop mir zu und sagte rasch und bestimmt: «Ich werde mich gleich darum kümmern.»
Und sie verschwand, wie sie gekommen war.
Zehntes Kapitel
I
D ie folgende Woche war wohl eine der merkwürdigsten, die ich je erlebt habe. Sie hatte etwas seltsam Traumhaftes an sich. Nichts erschien wirklich.
Der Fall Minnie Morse wurde vor Gericht untersucht, und die Schaulustigen von Lymstock strömten in Scharen herbei. Es kamen keine neuen Tatsachen ans Licht, und die Geschworenen gelangten zu dem einzig möglichen Urteil: «Mord durch Unbekannt».
Die arme kleine Minnie Morse hatte ihre Stunde im Rampenlicht gehabt. Man begrub sie auf dem stillen alten Friedhof, und das Leben in Lymstock ging weiter wie zuvor.
Nein, diese letzte Behauptung ist unrichtig. Nicht wie zuvor…
Ein halb furchtsames, halb gieriges Funkeln glomm in beinahe jedermanns Augen. Nachbarn beäugten einander. Denn eines hatte die Untersuchung klar ergeben: Minnies Mörder war mit größter Wahrscheinlichkeit kein Fremder. Nirgends im Umkreis waren Landstreicher oder sonstiges Gelichter bemerkt oder gemeldet worden. Irgendwo in Lymstock – die High Street entlangspazierend, einkaufend, grüßend – gab es demnach eine Person, die einem wehrlosen Mädchen den Schädel eingeschlagen und einen angespitzten Bratspieß ins Gehirn gestoßen hatte.
Und niemand wusste, wer diese Person war.
Wie gesagt, die Tage verstrichen wie in einer Art Traum. Ich sah alle, die mir begegneten, in einem neuen Licht: als etwaige Mörder. Es war keine angenehme Erfahrung.
Und abends, wenn die Vorhänge vorgezogen waren, saßen Joanna und ich beisammen und redeten – redeten, diskutierten, erörterten die verschiedenen Möglichkeiten, die alle gleichermaßen absurd und unglaublich anmuteten.
Joanna hielt hartnäckig an ihrer Theorie über Mr Pye fest. Ich war nach leichtem Schwanken zu meiner ursprünglichen Verdächtigen zurückgekehrt, Miss Ginch. Aber wir gingen die in Frage kommenden Namen wieder und wieder durch.
Mr Pye?
Miss Ginch?
Mrs Dane Calthrop?
Aimée Griffith?
Emily Barton?
Partridge?
Und die ganze Zeit warteten wir, unruhig, nervös, auf den nächsten Schlag.
Aber er blieb aus. Soweit wir wussten, hatte niemand mehr einen Brief erhalten. Nash gab gelegentliche Gastspiele in der Stadt, aber was er dort machte und was für Fallen die Polizei legte, entzog sich meiner Kenntnis. Graves war abgereist.
Emily Barton trank Tee mit uns. Megan aß bei uns zu Mittag. Owen Griffith behandelte seine Patienten. Wir besuchten Mr Pye auf einen Sherry. Und wir gingen zum Tee ins Pfarrhaus.
Zu meiner Erleichterung war Mrs Dane Calthrop nichts mehr von der Kampfeslust anzumerken, die sie anlässlich unserer letzten Begegnung an den Tag gelegt hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt daran erinnerte.
Ihr vordringliches Anliegen schien jetzt die Vernichtung weißer Schmetterlinge zu sein, die ihren Blumenkohl und ihre Kohlköpfe bedrohten.
Der Nachmittag erwies sich als einer der friedlichsten, die wir seit langem erlebt hatten. Die Pfarrei war ein hübsches altes Haus mit einem großen, schäbigen, gemütlichen Wohnzimmer in ausgeblichenem rosefarbenem Kretonne. Die Dane Calthrops hatten eine liebenswerte ältere Dame zu Besuch, die an einem Gebilde aus flauschiger weißer Wolle strickte. Wir bekamen vorzügliche heiße Teekuchen vorgesetzt, und dann erschien der Pfarrer und lächelte uns milde an, während er seine sanften gelehrten Bemerkungen beisteuerte. Es war durch und durch angenehm.
Das soll nicht heißen, dass wir nicht über den Mord sprachen, im Gegenteil.
Miss Marple, die Besucherin, war natürlich fasziniert von dem Thema. «Wir auf dem Land haben so wenig, worüber wir reden können!», sagte sie entschuldigend. Sie hatte sich in den Kopf
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