Die Schattenhand
gesetzt, dass das tote Mädchen genauso gewesen sein musste wie ihre Edith.
«So ein braves kleines Dienstmädchen, und so eifrig, nur manchmal ein klein wenig schwer von Begriff.»
Miss Marple hatte außerdem eine Kusine, die wiederum eine Nichte hatte, deren Schwägerin viel Ärger und Verdruss mit anonymen Briefen gehabt hatte, darum waren auch die Briefe von größtem Interesse für die reizende alte Dame.
«Aber sag mir doch, meine Liebe», bat sie Mrs Dane Calthrop, «was sagen die Dorfleute – ich meine die Stadtleute? Wen sehen die als den Täter?»
«Wahrscheinlich nach wie vor Mrs Cleat», mutmaßte Joanna.
«O nein», widersprach Mrs Dane Calthrop. «Jetzt doch nicht mehr.»
Miss Marple wollte wissen, wer Mrs Cleat sei.
Joanna sagte, sie sei die Dorfhexe. «Das stimmt doch, Mrs Dane Calthrop?»
Der Pfarrer murmelte ein langes lateinisches Zitat, im Zweifel über die böse Macht der Hexen, dem wir alle in ehrfürchtigem und verständnislosem Schweigen lauschten.
«Sie ist eine sehr törichte Person», sagte seine Frau. «Spielt sich gern auf. Sammelt Kräuter und dergleichen unterm Vollmond und sorgt dafür, dass jeder im Dorf es erfährt.»
«Und törichte Mädchen kommen zu ihr und wollen ihren Rat, nehme ich an», ergänzte Miss Marple.
Ich sah, dass der Pfarrer sich anschickte, einen neuerlichen Schwall Latein auf uns loszulassen, und fragte hastig: «Aber warum sollten die Leute sie nicht des Mordes verdächtigen? Die Briefe haben sie doch auch ihr in die Schuhe geschoben.»
«Oh!», sagte Miss Marple. «Aber das Mädchen ist mit einem Bratspieß getötet worden, wie ich höre – (höchst unschön!). Nun, das befreit diese Mrs Cleat naturgemäß von jedem Verdacht. Denn sehen Sie, sie bräuchte ihr ja nur etwas anzuhexen, und das Mädchen würde dahinsiechen und eines natürlichen Todes sterben.»
«Seltsam, wie hartnäckig sich die alten Vorstellungen halten», merkte der Pfarrer an. «In frühchristlichen Zeiten wurde lokaler Aberglaube sinnigerweise in die christliche Doktrin eingebunden, und sein unerfreulicheres Beiwerk wurde nach und nach ausgemerzt.»
«Wir haben es hier nicht mit Aberglauben zu tun», sagte Mrs Dane Calthrop, «sondern mit Tatsachen.»
«Und zwar üblen Tatsachen», fügte ich hinzu.
«Sie sagen es, Mr Burton», pflichtete Miss Marple bei. «Nun, Sie – verzeihen Sie, wenn ich so persönlich werde –, Sie sind fremd hier, und Sie sind welterfahren und haben das Leben von unterschiedlichen Seiten kennen gelernt. Da sollten Sie doch eigentlich in der Lage sein, eine Lösung für dieses unerquickliche Problem zu finden.»
Ich lachte. «Die beste Lösung, die ich bisher hatte, war ein Traum. In meinem Traum passte alles zusammen und ging wunderbar auf. Dummerweise stellte es sich nach dem Aufwachen als blanker Unsinn heraus.»
«Trotzdem, wie interessant. Erzählen Sie mir den Unsinn?»
«Na ja, es fing alles mit diesem dummen Spruch an, ‹Wo Rauch ist, ist auch Feuer›. Das hört man in Lymstock derzeit bis zum Erbrechen. Und dann hat sich das mit Kriegsausdrücken vermischt. Rauchschutzschleier, ein Fetzen Papier, Telefonnachrichten – nein, das war ein anderer Traum.»
«Was für einer denn?»
Die alte Dame fragte so begierig, dass mir der Gedanke kam, sie studiere sicher heimlich Das große Buch der Träume, auf das schon meine alte Kinderfrau geschworen hatte.
«Ach, Elsie Holland, das ist das Kindermädchen von Symmingtons, sollte Dr. Griffith heiraten, und der Herr Pfarrer hat die Messe auf Lateinisch gelesen (‹sehr passend, Liebster›, murmelte Mrs Dane Calthrop ihrem Gatten zu), und dann stand Mrs Dane Calthrop auf und erhob Einspruch gegen die Eheschließung und sagte, es dürfe nicht sein! Aber dieser Teil», setzte ich mit einem Lächeln hinzu, «war wirklich. Ich wachte auf, und da standen Sie vor mir und sagten genau das.»
«Und aus gutem Grund», versetzte Mrs Dane Calthrop – doch zum Glück mit vergleichsweise milder Stimme.
«Aber wo bleibt da die Telefonnachricht?», Miss Marple legte die Stirn in Falten.
«Tut mir Leid, da habe ich mich vertan. Die Nachricht kam gar nicht in dem Traum vor. Das war unmittelbar vorher. Ich ging durch die Diele und sah, dass Joanna etwas aufgeschrieben hatte, das einem Bekannten ausgerichtet werden sollte, falls er anrief…»
Miss Marple beugte sich vor. Auf ihren Wangen brannten zwei rote Flecken. «Halten Sie mich für sehr aufdringlich und sehr unhöflich, wenn ich frage, was für eine
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