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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Sie sind schauerlich. Und warum hast du einen Pullover an, der wie ein matschiger Kohlkopf aussieht?»
    «Der geht doch! Ich hab ihn schon seit Jahren.»
    «So sieht er auch aus. Und warum…»
    In diesem Augenblick fuhr der Zug ein und unterbrach mich in meinen ärgerlichen Vorhaltungen.
    Ich stieg in ein leeres Erste-Klasse-Abteil, kurbelte das Fenster herunter und lehnte mich hinaus, um das Gespräch fortzusetzen.
    Megan stand da, das Gesicht zu mir emporgewendet. Sie fragte, warum ich so böse sei.
    «Ich bin nicht böse», sagte ich unwahrheitsgemäß. «Es macht mich nur wütend, dass du dich so gehen lässt und rumläufst wie eine Vogelscheuche.»
    «Hübsch bin ich eh nicht, da ist es doch egal.»
    «Himmelherrgott», sagte ich. «Ich möchte dich endlich mal in einem menschenwürdigen Aufzug sehen. Am liebsten würde ich dich mit nach London nehmen und dich vom Scheitel bis zur Sohle ausstaffieren.»
    «Ach, wäre das schön», sagte Megan.
    Der Zug ruckte an. Ich blickte hinunter in Megans sehnsüchtiges Gesicht.
    Und dann, wie gesagt, überkam mich der Wahnsinn.
    Ich stemmte die Tür auf, packte Megan und zerrte sie mehr oder weniger zu mir ins Abteil.
    Ein Dienstmann draußen stieß einen Empörungsruf aus, aber ihm blieb nichts übrig, als die Tür mit einem geübten Stoß wieder zuzudrücken. Ich zog Megan vom Boden hoch, wo mein Ungestüm sie hinbefördert hatte.
    «Wozu war das jetzt gut?», wollte sie wissen und rieb sich das Knie.
    «Sei ruhig», sagte ich. «Du kommst mit mir nach London, und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dich selbst nicht wieder erkennen. Ich werd dir schon zeigen, wie du aussehen kannst, wenn du nur willst. Ich habe es satt, dich so zerlumpt durch die Gegend schleichen zu sehen.»
    «Oh!», flüsterte Megan hingerissen.
    Der Schaffner kam, und ich kaufte Megan eine Rückfahrkarte. Sie saß in ihrer Ecke und starrte mit ehrfurchtsvoller Scheu zu mir herüber.
    «Mann», sagte sie, als der Schaffner weitergegangen war. «Sie sind ja stürmisch.»
    «Sehr», sagte ich. «Das liegt in der Familie.»
    Wie hätte ich Megan erklären können, welcher Teufel mich da geritten hatte? Sie hatte so melancholisch ausgesehen, wie ein Hund, der daheim bleiben muss, wenn alle anderen spazieren gehen. Nun zeigte ihr Gesicht die ungläubige Verklärtheit des Hundes, der plötzlich doch mitdarf.
    «Du kennst London wahrscheinlich kaum, oder?», fragte ich.
    «Doch, natürlich», sagte Megan. «Ich bin immer durchgefahren, wenn ich ins Internat musste. Und ich war in London beim Zahnarzt und einmal in einem Theaterstück.»
    «Jetzt», prophezeite ich dunkel, «erlebst du ein anderes London.»
    Als wir ankamen, blieb gerade eine halbe Stunde bis zu meinem Termin in der Harley Street.
    Wir nahmen ein Taxi und fuhren direkt zu Mirotin, Joannas Schneiderin. Mirotin heißt im wirklichen Leben Mary Grey und ist eine unkonventionelle, lebhafte Mittvierzigerin, gescheit und sehr unterhaltsam. Ich habe sie immer gemocht.
    Ich sagte zu Megan: «Du bist meine Kusine.»
    «Wieso?»
    «Keine Widerrede.»
    Mary Grey war dabei, einer korpulenten Jüdin ein hautenges kobaltblaues Abendkleid auszureden. Ich eiste sie los und nahm sie beiseite.
    «Hören Sie», sagte ich, «ich habe eine kleine Kusine von mir mitgebracht. Joanna wollte eigentlich selber mitkommen, aber sie hat es nicht geschafft. Aber sie meinte, ich könnte alles Ihnen überlassen. Sie sehen ja, wie das Mädchen derzeit herumläuft.»
    «Mein Gott, ja», sagte Mary Grey mit Nachdruck.
    «Nun, ich möchte, dass sie von Kopf bis Fuß neu eingekleidet wird. Carte blanche. Strümpfe, Schuhe, Wäsche, alles! Ach, und Joannas Friseur ist doch auch irgendwo hier in der Nähe, oder?»
    «Antoine? Gleich um die Ecke. Ich kümmer mich drum.»
    «Sie sind ein Schatz.»
    «Oh, es wird mir ein Vergnügen sein – nicht nur wegen des Geldes, obwohl das auch nicht zu verachten ist heutzutage; die Hälfte von meinen verdammten Weibsbildern bezahlt ihre Rechnungen nicht. Aber wie gesagt, es wird mir ein Vergnügen sein.» Sie taxierte Megan, die ein Stück entfernt stand, mit raschem Blick. «Ausgezeichnete Figur.»
    «Sie müssen Röntgen-Augen haben», sagte ich. «Für mich sieht sie völlig formlos aus.»
    Mary Grey lachte.
    «Das sind diese Schulen», sagte sie. «Die bringen den Mädchen offenbar bei, dass Unscheinbarkeit ein Grund zum Stolz ist. ‹Einfach und ungekünstelt› nennen sie das. Manchmal dauert es eine ganze Saison, bis ein Mädchen

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