Die Schattenhand
und zog im Geist meinen Hut vor Owen Griffith. Endlich hatte jemand Joanna eine Dosis Realität verpasst.
«In der Diele liegt ein Brief für dich», sagte ich. «Von Paul, glaube ich.»
«Wie?» Sie schwieg eine Weile und sagte dann: «Ich hatte ja keine Ahnung, Jerry, was Ärzte leisten müssen. Was sie ausha l ten müssen.»
Ich ging in die Diele und holte Joanna ihren Brief. Sie öffnete ihn, überflog ihn zerstreut und ließ ihn fallen.
«Er war – er war absolut großartig. Wie er gekämpft hat – wie er sich geweigert hat aufzugeben! Er war unverschämt und gemein zu mir – aber er war großartig.»
Ich sah befriedigt auf Pauls missachteten Brief. Es gab keinen Zweifel, von Paul war Joanna geheilt.
Dreizehntes Kapitel
I
N ichts geschieht dann, wenn man es erwartet.
Ich war vollauf mit Joannas und meinem Privatleben beschäftigt und fiel aus allen Wolken, als am nächsten Morgen Nashs Stimme am Telefon sagte: « Wir haben sie, Mr Burton!»
Ich hätte fast den Hörer losgelassen vor Schreck.
«Sie meinen die…»
Er unterbrach mich.
«Kann bei Ihnen jemand mithören?»
«Nein, ich glaube nicht – obwohl, vielleicht…»
Die chintzbespannte Tür zur Küche, so schien mir, war einen Spalt aufgegangen.
«Vielleicht möchten Sie lieber aufs Revier kommen?»
«Ja. Ich bin sofort bei Ihnen.»
Binnen Minuten war ich auf der Polizeiwache. Nash und Sergeant Parkins saßen in einem der hinteren Räume. Nash strahlte über das ganze Gesicht.
«Es war eine lange Jagd», sagte er. «Aber jetzt ist es so weit.»
Er schob einen Brief über den Tisch. Diesmal war alles mit der Maschine geschrieben. Der Inhalt war vergleichsweise harmlos.
« Bilde dir nicht ein, du kannst dich so einfach ins gemachte Nest se t zen. Die ganze Stadt lacht über dich. Verschwinde, solange du noch kannst. Bald wird es zu spät sein. Das ist eine Warnung. Denk an das, was dem anderen Mädchen passiert ist. Hau ab und komm nicht zurück.»
Ein paar gelinde obszöne Ausdrücke rundeten das Ganze ab.
«Das hat Miss Holland heute Morgen bekommen», sagte Nash.
«Ich fand’s schon immer komisch, dass sie nie einen gekriegt hat», steuerte Parkins bei.
«Wer hat ihn geschrieben?», fragte ich.
Nashs Blick verlor ein wenig von seinem triumphierenden Leuchten.
Er sah müde und besorgt aus. Nüchtern sagte er: «Ich bedaure das, weil es einen anständigen Mann hart treffen wird, aber was soll man machen. Vielleicht hatte er selber schon einen Verdacht.»
«Wer hat ihn geschrieben?», wiederholte ich.
«Miss Aimée Griffith.»
II
Am Nachmittag gingen Nash und Parkins mit einem Haftbefehl zu den Griffiths.
Nash hatte mich gebeten, sie zu begleiten.
«Der Doktor», sagte er, «mag Sie sehr gern. Er hat nicht viele Freunde hier in der Stadt. Wenn es Ihnen nicht zu unangenehm ist, Mr Burton – er verkraftet den Schock vielleicht leichter, wenn Sie dabei sind.»
Ich hatte zugesagt. Ich tat es nicht gern, aber ich wollte natürlich helfen.
Wir klingelten und fragten nach Miss Griffith und wurden ins Wohnzimmer geführt. Elsie Holland, Megan und Symmington waren da und tranken Tee.
Nash ging die Sache behutsam an.
Er fragte Aimée, ob er sie einen Moment allein sprechen könne.
Sie stand auf und trat auf uns zu. Ganz schwach glaubte ich, einen gehetzten Ausdruck in ihren Augen aufflackern zu sehen. Wenn, dann verschwand er gleich wieder. Sie war so normal und kernig wie immer.
«Mich sprechen? Stimmt schon wieder mit meinen Scheinwerfern was nicht?»
Sie ging voraus in ein kleines Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Ganges.
Als ich die Wohnzimmertür zuzog, sah ich Symmington mit einem Ruck den Kopf heben. Als Anwalt hatte er vermutlich schon öfter mit der Polizei zu tun gehabt, und etwas an Nashs Gebaren musste ihm bekannt vorkommen. Er beugte sich vor.
Das sah ich gerade noch, bevor ich die Tür schloss und den anderen folgte.
Nash sagte sein Sprüchlein. Er handhabte alles sehr ruhig und korrekt. Er wies sie auf ihre Rechte hin und sagte ihr dann, dass er sie bitten müsse, ihn zu begleiten. Er hatte einen Haftbefehl gegen sie, und er verlas die Anklage…
Die genaue juristische Formulierung weiß ich nicht mehr. Es ging um die Briefe, noch nicht um den Mord.
Aimée Griffith warf den Kopf zurück und wieherte vor Lachen. «Was für ein lächerlicher Unsinn!», rief sie. «Als ob ich so einen Haufen Schweinereien verzapfen würde. Sind Sie verrückt geworden? Ich habe in meinem Leben nichts
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