Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
fragte sich, ob er es schaffen könnte, eines Tages auch so ein großer Magier wie Sennar zu werden.
Sich ein Stück hinter ihm haltend, beobachtete er den wankenden, schleppenden Gang des alten Zauberers, der ein Bein nachzog und sich auf einen Stock stützte. Es war eigenartig, ihn so entkräftet und niedergeschlagen zu sehen. Seine knöchernen Schultern bohrten sich durch den Stoff seines Gewandes, und voller Schmerz spürte Lonerin, dass es den Mann, der Sennar einmal gewesen war, vielleicht tat sächlich nicht mehr gab, dass er dem erbarmungslosen Lauf der Zeit zum Opfer gefallen war.
Der Spaziergang dauerte nicht lange. Auf einer winzigen Lichtung zwischen den Bäumen blieb Sennar vor einem weißen, efeubewachsenen Grabstein stehen. Mühsam kniete er nieder und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen davor. Dann legte er eine Hand auf den Stein, schloss die Augen und senkte das Haupt.
Mit einem Mal kam sich Lonerin entsetzlich überflüssig vor und wandte eilig den Blick ab. Er hätte Sennar nicht folgen dürfen, aber noch ungehöriger war es, diesen Mann, den er immer so bewundert hatte, in einem so traurigen, intimen Moment zu beobachten. Er schloss die Augen und sah plötzlich den Grabstein seiner Mutter im Land der Nacht vor sich. Als Knabe hatte er einmal einen ganzen Tag davor verbracht. Das war, kurz bevor er mit seinem Onkel aus seiner alten Heimat fortzog. Er hatte nicht weggehen können, nicht den Blick abwenden können von jenem Stück Holz, auf dem nur ihr Name und ein Datum eingeritzt waren.
Von den Erinnerungen überwältigt, lehnte er sich gegen einen Baumstamm. Als er den Blick wieder hob, sah er Sennar nur einen Schritt von ihm entfernt, der ihn, mit einer Hand krampfhaft den Stock umklammernd, aus gläsernen Augen anstarrte.
»Es tut mit leid . . . « , konnte Lonerin nur murmeln, denn eine Entschuldigung gab es nicht.
»Warst du neugierig? Wolltest du wissen, ob hier ein Mausoleum steht, eine Statue oder etwas in der Art?«
»Nein . . . ich . . . eigentlich weiß ich gar nicht . . . Es war kein bestimmter Grund . . . «
Angesichts Lonerins Verlegenheit schien sich Sennar zu entspannen. »Das ist ein sehr persönlicher Ort, verstehst du? Das ist kein Denkmal, das jedermann zugänglich wäre, dieses Grabmal ist nur für mich. Es gehört nicht dir oder der Aufgetauchten Welt, nur mir, Nihal und Tarik, falls er noch einmal hierher zurückkehren sollte.«
Lonerin senkte den Blick. »Das verstehe ich, und es tut mir auch unendlich leid ... Aber ich wusste ja nicht, dass Ihr es besuchen würdet, ich war nur aufgewacht und hatte Lust, mir die Beine zu vertreten.«
Sennar lächelte kurz und winkte dann ab. »Schon gut, manchmal bin ich vielleicht auch zu streng.«
Er setzte sich wieder hin, gleich neben den Grabstein, und blickte vor sich. »Ich komme jeden Morgen her, es ist eine Art Ritual, vielleicht albern, aber ich brauche das.«
Lonerin setzte sich neben ihn. »Das ist nicht albern, ich verstehe das sehr gut.« Sennar wandte ihm das Gesicht zu und schaute ihn an. »Hast du auch jemanden verloren, der dir nahestand?«
Lonerin nickte. »Ihr Grab liegt weit entfernt, ich habe es nie mehr geschafft, dorthin zurückzukehren. Als Junge habe ich stundenlang dort gesessen, immer in der Hoffnung, dass irgendetwas geschehen würde ... Ich will erst wieder dorthin zurückkehren, wenn die Gilde vernichtet ist.«
Sennar schwieg, und Lonerin tat es ihm nach, schaute nur auf den Grabstein, der ganz schlicht war wie der seiner Mutter, nur eben aus Stein. Wenn auch vom Efeu überwuchert, waren der Name und das Datum deutlich zu lesen. Nihal war vor fast dreißig Jahren gestorben. »Wie ist das passiert?«, fragte er unwillkürlich.
Sennar schien zu erstarren, und Lonerin bereute sogleich, diese Frage gestellt zu haben.
Doch der alte Magier antwortete: »Ach, es war Schuld der Elfen, die an der Küste leben. Als wir hier in diese Gegend kamen, hatten wir zuvor lange diese uns unbekannte Welt erforscht und begaben uns dann sogleich zu ihnen. Denn Nihal brannte darauf, auch dieses Volk ihrer Ahnen näher kennenzulernen.« Er seufzte. »Häufig haben wir eine gewisse Vorstellung von den Dingen, doch die Realität sieht dann ganz anders aus. Die Elfen sind ein abweisendes, feindselig eingestelltes Volk und verabscheuen alle Rassen der Aufge tauchten Welt, weil sie vor langer, langer Zeit von dort vertrieben wurden. Bei unserem ersten Besuch wurden wir sogleich gefangen genommen und
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