Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
und sie spürte Angst aufkommen.
Behutsam hob sie die Plane an, und die Gestalt, die sie so häufig in Ratsversammlungen bewundert hatte, kam ihr jetzt ungemein zerbrechlich vor. Ido schien sehr gealtert, und doch umgab ihn immer noch etwas Respekteinflößendes. So nahe war Theana ihm noch nie gewesen.
»Ihr habt euch ja schön Zeit gelassen«, grummelte Ido.
Theana erschrak, aber schon lächelte er sie an.
»Schon gut ... besser spät als gar nicht ...«
Atemnot, Blässe, Schweiß. Theana legte ihm eine Hand auf die Stirn. Eiskalt. Plötzlich war die Magierin Herrin der Lage.
22 Sie hob ihre freie Hand und ließ eine kleine Flamme auflodern, um Ido in deren Lichtschein genauer zu untersuchen. Unwillkürlich schloss er das Auge. Empfindlichkeit gegen Licht, eine weiteres Symptom, das zu bedenken war. »Könnt Ihr Euer Auge bitte einen Moment lang offen halten?«, bat Theana. »Zu Befehl«, antwortete Ido, doch seine Stimme klang immer gebrochener, und sein Blick wurde gläsern. Das Gift war in seinen Blutkreislauf eingedrungen. Theana zog die Plane ganz zur Seite und kniete neben ihm nieder, um ihn noch genauer zu untersuchen.
»Sag mir, dass es nicht so schlimm ist, bitte!« San war herbeigelaufen. Seine Stimme klang gramerfüllt.
»Ruhe. Ich brauche jetzt wirklich nur Ruhe«, antwortete Theana nur. Wie sie feststellte, hatte sich Idos Wunde an der Schulter, von der aus das Gift in die Blutbahn eingeströmt war, stark entzündet. Aber zum Glück handelte es sich nur um einen Kratzer, sodass sein Körper bis jetzt noch dagegen angekommen war. Bei einer tieferen Wunde wäre er jetzt schon tot gewesen.
Theana drehte sich zu Bjol um, der ebenfalls herbeigeeilt war: »Ich muss ihn hier an Ort und Stelle behandeln, bevor wir ihn transportieren können, sonst stirbt er uns unterwegs.« Der Junge stöhnte auf, doch der Drachenritter blieb ruhig. »Ihr werdet schon das Richtige tun.«
Theana spürte die enorme Verantwortung, die auf ihr lastete, und ihre Hand zitterte, als sie jetzt aus ihrer Tasche alles hervorholte, was sie brauchte. Es war nicht daran zu denken, jetzt ein Gegengift herzustellen. Zwar hatte sie erkannt, um was für ein Gift es sich handelte, doch hier fehlten ihr alle Zutaten. Im Augenblick konnte sie nur verhindern, dass noch mehr Gift in die Blutbahn geriet. Sie knöpfte Idos Wams auf und zog es ihm aus, sodass er nun mit nacktem Oberkörper vor ihr lag. Bevor sie sich ans Werk machte, dankte sie im Geist ihrem Vater. Das tat sie häufig, und doch ging ihr der Gedanke immer wieder nahe. Durch ihn hatte alles angefangen, und er fehlte ihr immer noch wie damals. Jetzt musste sie sich beeilen, und ihr Vater würde sie beschützen und anleiten. Die Worte der Litanei, die sie nun anstimmte, stammten aus einer Sprache, die in der Aufgetauchten Welt praktisch vergessen war. Theanas Körper bewegte sich im Rhythmus des Gesangs, während sie die Zutaten in ein Schüsselchen gab und darin verrührte. Sie spürte Bjols staunenden Blick in ihrem Rücken, versuchte aber, ihn nicht zu beachten. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Weiter singend, tauchte sie einen Weidenzweig in das Gemisch, während ihre Hände langsam zu leuchten begannen und das Gebet lauter wurde. Da schloss sie die Lider, ließ sich ganz von der Melodie ihrer Stimme leiten, und nach und nach zeichneten sich vor ihrem geistigen Auge leuchtende Linien ab, die sich immer wirrer verflochten. Die Welt verschwand am Horizont, und bald gab es nur noch diesen fremdartigen Gesang und die Energie, die immer stärker Theanas Körper durchströmte. Als ihre Hand heiß genug war, begann sie.
Dem Labyrinth der unsichtbaren Lichtlinien vor ihrem geistigen Auge folgend, zeichnete sie mit dem getränkten Weidenzweig bizarre Muster auf Idos Haut. War ein Muster fertiggestellt, sprach sie ein bestimmtes Wort und verstummte dann einen Moment, um anschließend, den harmonischen Gesang wiederaufnehmend, neue Symbole nachzuzeichnen.
Währenddessen wurde Idos Atem immer ruhiger, sein Gesicht nahm wieder Farbe an, und seine Glieder erwärmten sich. Schließlich war das gesamte Bild fertig und erstrahlte in seiner vollen Pracht. Nun berührte die Zauberin die Wunde und stieß einen lauten Ton aus, hielt ihn an und zeichnete dabei einen Kreis um die Wunde herum, hielt ihn weiter an, bis sie schließlich keine Luft mehr hatte, brach dann abrupt ab und schlug die Augen auf. Im nächsten Mo ment waren die Linien auf Idos Körper verschwunden, so als hätte es
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