Die Schattenkämpferin 1 - Das Erbe der Drachen
musste.
So stand er auf und bewegte sich mit vorsichtigen Schritten durch das Gras zum Wasser hin, während dieses seltsame Geschöpf, ohne auch nur die kleinste Welle zu verursachen, immer näher kam. Unverändert lag das Wasser reglos da, sodass auch die runde Mondscheibe auf dem Wasserspiegel vollkommen intakt blieb. Je näher es kam, desto deutlicher konnte Lonerin weitere Einzelheiten dieses Wesens erkennen. Es hatte einen gebogenen Schnabel und Schlangenaugen. Recht harmlos wirkte es aber durch seinen sonderbar flachen Kopf, der an den Seiten mit borstigen Haarkränzen besetzt war.
Jetzt war es so nahe, dass Lonerin es hätte berühren können. Aber er tat es nicht, stand nur weiter reglos da und starrte ihm in die Augen. Dann war plötzlich alles verschwunden: die Nacht, der Wald, der See. Nur noch das Nichts war geblieben, Lonerin selbst und diese eigenartige Kreatur.
Es geschah so schnell, dass Lonerin gar nichts mitbekam. Als ihn eine beißende Kälte und das Gefühl, von vier Gliedmaßen umklammert zu werden, wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte, war es bereits zu spät. Er versuchte zu schreien, doch sofort füllte sich sein Mund mit Wasser. Direkt vor sich, nur eine Handbreit entfernt, hatte er das grinsende Gesicht eines Wesens, das mit seinen stechenden Augen und den langen, scharfen Zähnen nunmehr alles andere als harmlos aussah.
Wie ein Trottel hatte er sich hereinlegen lassen, dachte er noch, während er schon auf den Grund des Teiches hinab gezogen wurde. Und dabei hatte er doch eine ganze Reihe von Abhandlungen gelesen, die vor solchen Seeungeheuern warnten.
Das Gefühl, gleich ersticken zu müssen, und die Erkenntnis, dass er verloren war, versetzten ihn in Panik. Verzweifelt schlug er um sich, doch es war sinnlos. Er konnte nur noch entsetzt beobachten, wie die Bestie den Kopf vorreckte, um im nächsten Augenblick zuzubeißen, da hörte er plötzlich ein seltsames Gurgeln und eine Art Schrei und spürte gleichzeitig eine Hand, die ihn aus dem Wasser zog.
Kurz darauf lag er bäuchlings am Ufer, hustete, spie Wasser aus und schnappte nach Luft.
»Geht's?«
Dubhes Stimme klang besorgt, und Lonerin hatte das Gefühl, noch nie etwas Schöneres gehört zu haben.
Immer noch keuchend drehte er sich um und nickte Dubhe zu, die mit dem Bogen in der Hand neben ihm stand. Wie hatte er sich bloß so übertölpeln lassen können? Lonerin war es dermaßen peinlich, dass er sie kaum ansehen konnte. »Ich weiß nicht, was das für ein Untier war, aber mit Pfeil und Bogen macht dir wirklich keiner was vor. Ein toller Schuss«, sagte er.
»So retten wir uns eben ständig gegenseitig das Leben«, antwortete sie mit einem erleichterten Lächeln.
Sie reichte ihm die Hand und half ihm auf.
Lonerin blickte ihr in die Augen und spürte, wie es ihm das Herz wärmte.
Kampf im Mondschein
Es war bereits Abend, als Sherva zu rasten beschloss. Er stieg vom Pferd und atmete tief die kühle Luft ein, die einer mondlosen Nacht vorausging. In seinen Adern floss Nymphenblut, und die Neigung, sich in der freien Natur aufzuhalten, war eine Seite seines Charakters, die er im Bau der Gilde ständig unterdrücken musste.
Lange betrachtete er die karge, trostlose Landschaft. Zerstörte Bäume, vom Feuer geschwärzte Hügel, abgestorbene Pflanzen. Das war alles, was vom dem einst prächtigsten Wald im Land des Windes nach dem Großen Krieg und Dohors gewaltsamen Eingriffen übrig war. Eine in Jahrtausenden gewachsene Natur war in kürzester Zeit ausgelöscht worden ...
Sherva wandte sich seinem Waffenkameraden Leuca zu, der noch mit dem geknebelten Knaben im Sattel saß. Er bedeutete ihm abzusteigen, doch der zögerte: »Hier haben wir doch keine Deckung und sind zu leicht auszumachen ...«
»Das geht schon! Steig ab, ich befehle es dir ...«
Das ließ sich der andere nicht zweimal sagen, schwang sich vom Pferd und hob auch den Jungen herunter. Schließlich war Sherva ein Wächter und gehörte damit zu den höheren Rängen der Gilde, er selbst hingegen nur ein einfacher Assassine, der ihm Gehorsam schuldete.
Sherva drehte sich wieder zu dem schwarzen mächtigen Baumstamm neben ihm um. Die Rinde war von Rissen durch zogen, und die abgestorbenen gewundenen Äste reckten sich ins Leere. Ein Teppich aus verfaultem, stinkendem Laub raschelte unter seinen Füßen. Das war er also, Nihals Vater des Waldes, jener mächtige Baum, der in der Geschichte der Drachenkämpferin besungen wurde. In der Mitte des Stammes sah er
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