Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
weiß nicht, seit wann Kelia schon bei den Rebellen ist, aber er macht sich offenbar Sorgen um sie. Ich würde ihn gern trösten und ihm sagen, dass es ihr gut geht oder zumindest gut gehen wird, sobald ich den Hof irgendwie davon überzeugt habe, Naito freizulassen. Doch stattdessen verschränke ich bloß die Arme und halte den Mund.
»Geh ein Stück mit mir. Gehen.« Lord Raen bewegt den Zeige- und Mittelfinger, als wären es winzige Beine.
Mir ist nicht ganz wohl dabei, aber ich gehe neben ihm her. Jetzt beobachten uns einige Fae. Ich bin mir sicher, dass wir inzwischen das Thema einiger Unterhaltungen geworden sind. Raen ignoriert die Fae alle und starrt auf den Marmorboden, als wir an einer weiteren Skulptur vorbeikommen. Ich weiß nicht, wen sie darstellt, aber Kyol hat mir erzählt, dass sie die Tar Sidhe symbolisiert, die magisch machtvollen Fae, die vor Jahrhunderten über das Reich geherrscht hatten. Aber ich finde, dass die Figuren aussehen, als würden sie die Elemente darstellen, wobei ich mich jedoch frage, wieso es fünf anstatt vier sind. Erde, Wind, Feuer, Luft und …
»Ihre Mutter gibt mir die Schuld« , sagt Raen. »Ich befürchte, sie hat recht. Ich hätte nicht …« Irgendwas hätte er nicht tun sollen. Ich könnte ihn deutlich besser verstehen, wenn er nicht vor sich hin murmeln würde. »Aber dieser Mensch, er ist nicht gut für sie. Er war es nicht. Er hätte ihre Magie zerstört, sie zu einer Tor’um gemacht. Kelia war schon immer viel zu fasziniert von deiner Welt.«
Ich glaube, er will einfach nur reden, also höre ich zu und passe auf, dass ich nicht versehentlich auf seine Worte reagiere.
»Vielleicht würde sie mir vergeben, wenn ich ihr den Menschen zurückgeben könnte. Aber das ist unmöglich. Der Schwertmeister hat ihn getötet. Sie wird nie wieder mit mir sprechen.«
Mein Innerstes gefriert zu Eis, und ich bleibe stehen.
»Was?«
Lord Raen runzelt die Stirn und sieht mir in die Augen.
Vielleicht habe ich seine Worte falsch übersetzt. Kyol hat mir sein Wort gegeben – mir versprochen – , dass es Naito gut geht.
»Naito«, sage ich, da er seine Worte wiederholen soll.
»Der Mensch?«
Ich nicke. Er schüttelt den Kopf.
»Kelia ist meine Tochter. Kelia. Hast du sie gesehen?«
Ich öffne den Mund und will schon etwas sagen, mache ihn dann aber wieder zu. Hier sind einfach zu viele Fae, und wenn er recht hat … Nein. Er muss sich irren. Kyol würde mich nie anlügen und behaupten, es ginge Naito gut. Das würde er nicht tun.
Oder doch?
Ohne eine Erklärung lasse ich Lord Raen stehen. Ich muss mit Kyol reden und ihn noch einmal fragen, ob Naito noch am Leben ist. Dieses Mal werde ich bereit sein, ihn beim Lügen zu ertappen.
Daz fängt mich ab, bevor ich den Thronsaal betreten kann. Seine Lippe zuckt, aber er schimpft nicht, weil ich nicht an der Stelle, an der er mich zurückgelassen hat, auf ihn gewartet habe. Er dreht sich um und führt mich durch die riesige, offen stehende, vergoldete Flügeltür. Vier Schwertkämpfer, zwei auf jeder Seite, bewachen den Eingang. Sie lassen uns eintreten, und wir gehen über den edlen blauen Teppich, der am anderen Ende des Saals am Fuß der riesigen, silbernen Estrade endet, auf der der Thron des Königs steht. Er ist leer. Nur ein Dutzend Schwertkämpfer sind im Saal postiert und beobachten mich.
Ich zwinge mich, weiterzugehen. Obwohl die silbernen Mauern rings um den Palast verhindern, dass Fae hier Risse öffnen können, herrscht Silber als Dekor vor. Einige Gegenstände wie das geometrische Ornament an der Wand sind übergossen mit Magie. Es blitzt blau wie die Edarratae der Fae, wenn sie in meiner Welt sind.
Mir stellen sich die Haare im Nacken auf, aber ich kann nicht wieder gehen. Ich muss die Wahrheit wissen. Wenn mich Kyol wegen Naito angelogen hat, dann kann er auch in Bezug auf andere Dinge gelogen haben. Eigentlich könnte dann alles eine Lüge sein.
Gott, bitte, bitte , lass Naito am Leben sein.
Daz führt mich an der silbernen Estrade vorbei und deutet auf eine Öffnung in der hinteren Wand. »Da lang.«
Ich hole tief Luft, versuche, mich zu entspannen, und gehe hindurch.
An der Wand angebrachte Kugeln werfen ihr blaues Licht auf die schmale Treppe. Die Luft ist kühl, fast schon kalt, aber sie wird wärmer, je weiter ich nach unten komme. In dem kleinen Zimmer brennt kein Feuer, aber einige der Fae können die Luft mit einem Hauch Magie erwärmen. Radath und Atroth stehen hinter einem Holztisch und sehen
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