Die Schattenleserin - Nachtschwarze Träume: Roman (German Edition)
sich eine Karte an, die darauf ausgebreitet ist. Kyol ist nicht da.
Meine Stiefel schrammen über den Steinboden, als ich abrupt stehen bleibe. Ich will nicht mit Radath und dem König reden. Ich bin nach Corrist gekommen, weil ich Kyol sprechen wollte, aber was ist, wenn er gar nicht hier ist? Was ist, wenn Daz gar nicht wusste, wo er sich aufhält, und Kyol jetzt in Haeth ist und auf mich wartet?
Atroth sieht auf. Wenn ich ihn nicht kennen würde, käme ich nie auf den Gedanken, er könnte der König der Fae sein. Er ist gekleidet wie ein Edelmann, ungefähr so wie Lorn bei unserem ersten Treffen, und trägt ein blütenweißes Hemd unter einer dunkelbraunen Weste. Die Weste ist aus Jaedrik und mit einem Muster verziert, das an eine Lilie erinnert. Er trägt keine Krone oder andere Zeichen, die darauf hindeuten, dass er der Nachfahre der Tar Sidhe ist. Er ist kleiner als Radath und hat einen beachtlichen Bauch, da sein Körper nicht von der Anstrengung des Krieges beeinträchtigt wird. Das Lächeln, mit dem er mich begrüßt, wirkt aufrichtig.
»McKenzie«, sagt Atroth. »Bitte komm doch rein.«
Atroth ist immer nett zu mir gewesen. Ich hatte nie das Gefühl, dass er mich als notwendiges Übel betrachtet, wie ich es bei Radath und einigen anderen Fae des Hofes habe. Mir kommt es eher so vor, als würde er es bedauern, dass ich für sein Volk schädlich bin. Aus diesem Grund konnte ich ihn auch nie für sein Verbot der Beziehungen zwischen Fae und Menschen hassen. Er ist der König und hat die Pflicht, das Reich zu schützen.
»Setz dich.« Er deutet auf einen Stuhl. »Möchtest du etwas trinken?«
»Ein Schluck Wasser wäre schön.« Ich habe keinen Durst, aber meine Hände brauchen etwas, womit sie sich beschäftigen können.
Atroth gießt mir höchstpersönlich etwas Wasser ein. Er lächelt erneut, als er mir das Glas reicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Kyol befohlen hat, einen Menschen zu töten. Der König braucht uns, um Illusionen zu erkennen, und wenn seine Fae in meine Welt kommen, dann tun sie ihr Möglichstes, damit keinem Menschen etwas zustößt, unabhängig davon, ob er nun die Gabe des Sehens hat oder nicht. Die Rebellen sind diejenigen, denen es egal ist, wem sie schaden. Naito ist am Leben. Er muss noch am Leben sein.
»Danke«, sage ich.
Der König setzt sich mir gegenüber hin. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht und freuen uns, dass du wieder da bist. Dass du in Sicherheit bist. Ich kann dir versichern, dass Taltrayn alles getan hat, was in seiner Macht stand, um zu verhindern, dass die Rebellen dich finden. Sobald du in Gefangenschaft geraten warst, hat er nichts unversucht gelassen, um dich zurückzuholen.«
Du wärst entsetzt, wenn du wüsstest, was er alles macht, um dich zurückzukriegen. Ich kann Arens Worte noch deutlich in meinem Kopf hören. Wir haben auf diesem klapprigen Bett gesessen, und er hatte gerade meinen gebrochenen Arm geheilt. Ich habe ihn nicht nach Einzelheiten gefragt. Damals habe ich nicht Aren vertraut, sondern Kyol. Ich vertraue Kyol doch noch, oder? Es ist gut möglich, dass ich Lord Raen falsch verstanden habe.
»Wo ist Taltrayn?«, erkundige ich mich.
»Du solltest in Haeth sein«, entgegnet der Lord General.
Das ist typisch für Radath. Er sagt nie »Hallo, wie geht’s?«, sondern spricht nur über das, was gerade auf der Tagesordnung steht. Ich habe noch immer nicht ganz raus, wie ich am besten mit ihm umgehen soll. Er ist ein groß gewachsener Fae und hat ebenso breite Schultern wie Kyol. Als ich ihm vor zehn Jahren zum ersten Mal begegnet bin, war er noch dicker als heute. Massiger ist wohl das bessere Wort. Er hat seit Jahren nicht mehr auf einem Schlachtfeld gekämpft, und sein Körper hat die einstige Muskelmasse verloren. Doch er schüchtert mich noch immer ein, was normalerweise kein Problem ist, da er nur äußerst selten mit mir spricht und es eher Kyol überlässt, mir Dinge mitzuteilen.
»Taltrayn sagte, er würde mit Euch reden«, sage ich zum König.
»Worüber reden?«, will Radath wissen. Atroth scheint es nicht zu stören, dass der Lord General an seiner statt antwortet, aber mich stört es gewaltig, vor allem, da es eine verdammt schlechte Zeit zu sein scheint, um meinen Rücktritt anzukündigen.
»Mylord.«
Kyol erspart mir eine Antwort. Ich atme aus und sehe, wie er den Raum betritt. Er sieht mich nicht an, er hat nur Augen für den König, und sein Gesicht bleibt ausdruckslos. Das ist nicht ungewöhnlich. Das ist
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