Die Schattenmatrix - 20
Aus Liriels Stimme klang beißende Verachtung, und zur allgemeinen Überraschung zuckte Emelda zusammen.
»Ich weiß, dass Ihr sterben werdet«, murmelte die kleine Wahrsagerin.
»Ihr wisst nichts dergleichen. Ihr wünscht es Euch nur, damit Ihr mit Eurem widerlichen kleinen Spiel fortfahren könnt.« Liriels Gesicht wandelte sich plötzlich, ihr Ausdruck wechselte so schnell von gelangweilt zu hellwach, dass Mikhail vor Schreck zusammenfuhr. »Ich weiß, wer Ihr seid, Emelda, und ich weiß auch, was Ihr seid!« Liriels Stimme war streng und kraftvoll, Mikhail hatte das Gefühl, als säße eine unbekannte Person vor ihm.
»Was?« Die kleine Wahrsagerin sah aufgeschreckt aus, ihre Augen weiteten sich. Frischer Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, sie grub ihre Fingernägel in die Handflächen und kaute dabei auf ihrer Unterlippe, so dass sie aussah wie ein Wiesel.
»Ich seid eine gewöhnliche Kräuterhexe und nichts anderes! SCHLUSS DAMIT!«
Mikhail hatte den flüchtigen Eindruck, dass eine Dunkelheit aus Emeldas Kopf entwich, eine Schlierenbildung lag plötzlich in der Luft, die er schon einmal beobachtet, aber sofort wieder vergessen hatte. Auf Liriels Befehl hin beruhigte sich die Luft augenblicklich. Unter anderen Umständen hätte er es für Einbildung gehalten.
Wie hast du das denn gemacht?
Seit jener schrecklichen Nacht in Armida, als Marguerida die Befehlsstimme benutzte, habe ich mit ihr geübt, sooft ich die Gelegenheit dazu hatte - ich habe ihr geholfen, die Stimme beherrschen zu lernen. Daran war sonst niemand in Arilinn sonderlich interessiert, aber ich hielt es für einen Fehler, wenn wir uns ausschließlich auf ihre Schattenmatrix konzentrierten. Zu meiner großen Überraschung entdeckte ich, dass der Trick von Zeit zu Zeit auch bei mir funktioniert. Mikhail spürte Liriels Freude über diese Leistung und ihr Triumphgefühl.
Aber ich dachte immer, die Befehlsstimme lässt sich nicht erlernen. Das dachte ich anfangs auch. Marguerida ist eine ausgebildete Sängerin, deshalb überrascht es nicht, dass sie die Stimme fast instinktiv beherrscht. Aber ich weiß inzwischen, dass jeder, der über Laran verfügt, sie bis zu einem gewissen Grad erlernen und entwickeln kann. Ich werde nie besonders gut darin sein, aber immerhin habe ich Mutter damit schon einige Male zum Schweigen gebracht.
Emelda war auf ihrem Stuhl zusammengesunken, sie sah überrascht und wütend aus. Die Kinder beobachteten sie ängstlich und nervös, aber auch neugierig. Ihren Mienen war deutlich abzulesen, dass sie kein Mitleid mit der gedemütigten Wahrsagerin empfanden, sondern vielmehr erleichtert waren, weil ihr tatsächlich jemand Einhalt gebieten konnte.
Dann sammelte sich die zierliche Frau wieder und beugte sich über den Tisch. Sie richtete ihren Blick auf Liriel, und Mikhail sah, wie die Schlieren wieder aufstiegen, denen der
Rauch des Feuers Form und Substanz gab. Sie sahen dicker aus als vorher und schienen mehr Energie zu besitzen. Am Tischende stürzte Alain plötzlich vornüber in seinen Teller und begann zu zucken. Im gleichen Augenblick schauderte Emun, schlug die Hände vor das schmale Gesicht und heulte vor Schmerz laut auf. Mikhail handelte, ohne nachzudenken. Er nahm seinen Teller, auf dem noch immer das unappetitlich gekochte Geflügel lag, und schleuderte das unhandliche Objekt aus dem Handgelenk los, wie er früher als Kind Steine über den See von Armida hatte hüpfen lassen. Das Essen ergoss sich auf die Tafel. Der Teller glitt flatternd knapp über Emeldas Kopf hinweg, so dass ihr das Fett in die Haare tropfte, und er durchschnitt die Schlieren wie eine hölzerne Klinge. Es gab einen Blitz, ein schwaches Aufleuchten, und die Wahrsagerin brach zusammen. Ihre offenen Augen starrten ins Leere, ihre Mundwinkel hingen schlaff und sabbernd nach unten, und das Geflügelfett lief ihr über die Wange. Allein die Hände zuckten noch an dem reglosen Körper.
»Gut gemacht!« jubelte Valenta und schlug auf den Tisch. 12
Mikhail stand rasch auf, ging zu Alain und setzte ihn wieder aufrecht auf seinen Stuhl. Er bettete den Kopf des Jungen an seine Brust und überprüfte den Puls. Der Anfall war anscheinend vorüber, Alains Atem ging schon wieder regelmäßig. Selbst seine Gesichtsfarbe wirkte gesünder als sonst. Emun hatte sein Geheul ebenfalls eingestellt und wirkte ein bisschen verlegen wegen seines Ausbruchs. Nur Vincent blieb äußerlich unbewegt, er schaufelte weiter Essen in sich hinein, als wäre nichts
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