Die Schattenmatrix - 20
nachzudenken. Er überlegte ständig, was er hätte anders machen sollen, und fand keine Antwort. Er suchte vergeblich danach, und das wusste er nur zu gut. »Erwartest du etwa, bei Hofe vorgestellt zu werden?«, fragte er die Krähe leise und erhielt als Antwort ein weiches Trillern, dem musikalischsten Geräusch, zu dem das Tier fähig war. »Ich werde bestimmt eine nette Figur abgeben, wenn du die ganze Zeit auf meiner Schulter sitzt.«
Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde etwas seine Gedanken streifen, nur ganz leicht, wie eine Feder an seiner Stirn. Die Berührung enthielt keine Worte, nur eine Art von Gedankenaustausch, die er bisher nie erlebt hatte. Es fühlte sich ruhig an, aber stark.
Mikhail wandte langsam den Kopf, um die Krähe anzusehen, und blickte in rote Augen, die ihn aufmerksam muster
ten. Der gewaltige Schnabel war nicht mehr als eine Handspanne von Mikhails Nase entfernt, und er sah scharf und gefährlich aus. Doch Mikhail fühlte sich nicht bedroht, er empfand nur eine tiefe Gewissheit, als versicherte ihm jemand, dass alles in Ordnung war. 14
In der Abenddämmerung des fünften Tages erreichten sie die Tore von Thendara, der nasse Schneefall durchweichte die Mäntel der Reiter und ließ die Pferde vor Feuchtigkeit glänzen. Es erforderte eine weitere Stunde und mehrere Umwege, bis sie Burg Comyn erreicht hatte, da die Kutsche einige der engeren Straßen nicht passieren konnte. Mikhail schickte jedoch Daryll und Mathias voraus, damit alle Vorkehrungen für die Ankunft der fünf Kinder, darunter zwei kranke, getroffen wurden.
Während sie die Tavernen und Buden passierten, aus denen der Duft nach Eintopf und Braten und ein leises Stimmengewirr drang, fragte sich Mikhail, warum er im Laufe der Reise nicht mit seinem Onkel Kontakt aufgenommen hatte. Nach einigen Minuten des Nachdenkens entschied er, dass er sich wohl immer noch zutiefst seines offenkundigen Versagens in Haus Halyn schämte. Auch das gute Zureden von Marguerida und Liriel änderte nichts daran. Als Mikhail mit einer Seekrähe auf dem Sattelknauf und in düsterer und gedämpfter Stimmung in den Stallhof von Burg Comyn ritt, wusste er nicht, was ihn erwartete. Doch im Licht der Fackeln, die auf den gefegten Steinen des Hofes flackerte, sah er nicht nur Stallburschen und Diener auf ihn warten, sondern auch Regis persönlich, der am Absatz einer niedrigen Treppe stand, den Kopf trotz der Kälte unbedeckt, so dass sein weißes Haar im rötlichen Feuerschein leuchtete. Danilo Syrtis-Ardais stand einige Schritte hinter seinem Herrn, wachsam wie immer, doch mit dem Anflug eines Lächelns um den Mund.
Mikhail saß ab, warf dem am nächsten stehenden Stallburschen die Zügel zu und stieg die Treppe hinauf, um seinen On
kel zu begrüßen. Hinter sich hörte er die Stimmen der Kinder, besonders der beiden Mädchen, und Liriel, die ihnen zu schweigen gebot, während sie aus der Kutsche stieg. Als Mikhail schließlich vor Regis stand, brachte er keinen Ton heraus. Er war seit Jahren nicht mehr derart befangen gewesen.
Doch sein Onkel umarmte ihn so warmherzig, und auf seinem Gesicht spiegelte sich die offenkundige Freude über ihr Wiedersehen, dass Mikhails Ängste verschwanden. Die beiden standen stumm in der kalten Nachmittagsluft und kosteten den Augenblick aus.
Dann flatterten schwarze Schwingen durch die Luft, und die Krähe ließ sich auf Mikhails Schulter nieder; sie sah Regis aus ihren roten Augen so durchdringend an, dass er sofort einen Schritt zurücktrat. »Ich habe versprochen, sie bei Hof vorzustellen, und sie scheint ganz begierig auf diese Ehre zu sein«, sagte Mikhail erleichtert, weil er seine Sprache wieder gefunden hatte. Regis’ Willkommensfreude war so echt, dass er sich nicht länger unwohl fühlte.
Regis lachte. »Du warst immer ein äußerst eigenwilliger Junge, Mikhail, und ich stelle fest, dass es dir noch heute gelingt, mich zu überraschen. Allerdings weiß ich nicht, was Lady Linnea von einer Krähe in ihrem Speisesaal halten wird!«
»Ach, ich glaube, deswegen müssen wir uns keine Sorgen machen. Sie zieht es vor, im Freien zu bleiben und Küchenreste zu schnorren. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, weil ich mit allen Kindern zurückkehre, lieber Onkel.«
»Ich bin doch nie enttäuscht von dir, Mikhail. Und als du nach Liriel geschickt hast, habe ich schon erwartet, dass etwas nicht stimmt. Komm, gehen wir nach drinnen.« Ich will nicht mehr Klatsch provozieren als nötig.
Natürlich, Onkel Regis. Und
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