Die Schattenmatrix - 20
mein Bruder Gabriel, dachte er und konnte der ganzen unerfreulichen Situation plötzlich eine komische Seite abgewinnen. »Jetzt benimm dich nicht länger wie ein verzogenes kleines Kind und verdirb uns den schönen Ritt nicht.« Gisela wandte abrupt den Kopf ihres Pferdes und kam so nahe an Mikhail heran, dass die Krähe aufgeschreckt die Flügel spreizte. Sie starrte ihn wütend an und verkündete: »Ich träume davon, dich zu besitzen, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, und ich werde bekommen, was ich will! Außerdem habe ich die Aldaran-Gabe, und ich habe gesehen, dass ich einen Hastur heiraten werde!« Trotz der Leidenschaft in ihrer Stimme vernahm Mikhail auch den zweifelnden Unterton.
Gisela versetzte ihrer Stute einen kräftigen Schlag mit der Gerte, das Pferd zuckte zusammen und trabte zurück in Richtung der Stadttore. Mikhail war zuerst verblüfft und dann sehr verärgert, weil er nicht das letzte Wort gehabt hatte. Unter seinem warmen Mantel wurde ihm plötzlich kalt.
Mikhail wusste, dass er besser umdrehen und Gisela folgen sollte. Aber er war einfach zu wütend. Er überlegte, dass sie ihn sehr stark an Javanne erinnerte, wenn sie sich mal wieder etwas in den Kopf gesetzt hatte; diese Eigenschaft war ihm bei Gisela bisher gar nicht aufgefallen.
Einen Hastur heiraten? Gewiss nicht diesen Hastur, solange er es verhindern konnte! Außerdem würde der Rat der Comyn niemals zustimmen. Die Zukunft war nicht in Stein gemeißelt, sondern fließender, als er es sich je vorgestellt hatte. Er hätte in Haus Halyn sterben oder sich unterwegs den Hals brechen können, was jeder möglichen Zukunft ein Ende gesetzt hätte.
Er dachte einen vergnüglichen Augenblick darüber nach, welcher seiner Brüder wohl das schwere Opfer bringen und Gisela zur Frau nehmen könnte, und in seinen Mundwinkeln zuckte der Anflug eines Lächelns.
Wesentlich ruhiger und zufrieden, dass er mit Gisela so gut fertig geworden war, stieß Mikhail die Knie in Stürmers Flanke und ritt auf der Nordstraße in Richtung der Ruine von Hali. Die Straße führte weiter nach Neskaya, wo sich Marguerida gerade aufhielt. Wenn er seinem Herzen folgte, könnte er nach einem scharfen Ritt innerhalb von fünf oder sechs Tagen bei ihr sein. Doch die Pflicht rief, und nach einer Stunde hielt er den großen Braunen an und kehrte um nach Thendara.
18
Begleitet von zwei Mitgliedern der Garde traf Margaret Alton und Rafaella n’ha Liriel kurz vor der Unwetterfront in Thendara ein. Sie hatte ihnen seit zwei Tagen bedrohlich im Nacken gesessen, sie aber nie ganz eingeholt. Margaret war sämtlichen Göttern, die sie mit Namen kannte, dafür sehr dankbar, auch wenn sie nicht an jeden von ihnen glaubte. Die Gardisten behaupteten, es sei der mildeste Winteranfang, an den sie sich erinnern könnten, doch für Margaret war es die reinste Hölle. Ihre Finger fühlten sich wie Eiszapfen an, und sie war überzeugt, dass ihre Füße nie wieder warm werden würden.
Der Anblick der Mauern von Thendara ermutigte Margaret. Die Reise war zum Glück ereignislos verlaufen - keine Banditen, keine Banshees und nur gelegentliches Schneetreiben -, doch Margaret war todmüde. Am Gesäß hatte sie bestimmt schon Schwielen vom Reiten, und ihre Wirbelsäule schmerzte vom Steißbein bis zum Nacken. Doch bald würde sie auf Burg Comyn sein, und wenn sie die Tage nicht völlig durcheinander gebracht hatte, würde auch Ida Davidson am nächstem oder übernächsten Tag von der Universität eintreffen. Seit der Abreise von Neskaya hatte Margarets Angst, sie könnte zu spät kommen und ihre liebe Freundin würde bei der Ankunft niemanden zur Begrüßung vorfinden, ihren Schlaf in den kalten Nächten empfindlich gestört.
Die Stadt wirkte wie verwandelt auf sie. Schnee bedeckte die Häuser, und lange Eiszapfen hingen an den Dachkanten. Die Straßen waren frei, allerdings lagen große Schneehaufen an beiden Seiten und behinderten die wenigen Fuhrwerke, die unterwegs waren. Aber Margaret kam noch etwas verändert vor, und sie blickte sich trotz ihrer Müdigkeit aufmerksam um.
Was war es nur?
Dann bemerkte sie, dass lange Girlanden aus Grün, verflochten mit Goldstoff vor den steinernen Fassaden der Häuser und Geschäfte hingen und der Stadt eine festliche Stimmung verliehen, die ihr im Sommer fehlte. Außerdem kam es ihr vor, als würden sich die Einwohner in grellere Farben kleiden, als wollten sie mit ihrer betont schrillen Aufmachung ein Gegengewicht zum Grau und Weiß des Winters
Weitere Kostenlose Bücher