Die Schattenplage
Griechenland, Island … Der Sphinx hat an all diesen Orten gelebt, und überall gibt es unterschiedliche Theorien darüber, wer er ist und woher er kommt. Einige sagen, er sei die Inkarnation eines vergessenen ägyptischen Gottes, andere behaupten, er wäre eine Meeresschlange, dazu verflucht, auf dem trockenen Land umherzustreifen. Und wieder andere sagen, er wäre ein arabischer Prinz, der den Teufel betrogen und dadurch Unsterblichkeit erlangt hätte. Jede Geschichte ist anders, und jede noch unwahrscheinlicher als die vorige. Ich habe mit Verwaltern gesprochen, mit magischen Wesen, Historikern und sogar Verbrechern, einfach mit jedem. Der Bursche ist ein Geist. Wenn ihr mich fragt, würde ich sagen, er hat all diese Gerüchte selbst ausgestreut, um genau das zu verhindern, was ich versucht habe: seine wahre Identität herauszufinden.«
»Der Sphinx hat sich schon immer in Mysterien gehüllt, und das macht ihn verwundbar für die Art von Vorwürfen, die Vanessa gegen ihn erhoben hat«, bemerkte Opa.
»Was Vanessa auch wusste«, warf Coulter ein. »Er ist eine leichte Zielscheibe für Verleumdungen. Es wäre nicht das erste Mal.«
»Ja, aber meistens handelte es sich dabei um wilde Spekulationen ängstlicher Gemüter«, meinte Oma. »Doch diesmal sind die Indizien überwältigend. Vanessas Erklärung passt perfekt zu den Ereignissen.«
»Aus gutem Grund verurteilen wir niemanden wegen bloßer Indizien«, sagte Tanu. »Wir wissen aus erster Hand, wie verschlagen Vanessa sein kann. Sie könnte sich leicht die ihr bekannten Tatsachen zunutze gemacht und daraus ein überzeugendes Lügengebäude errichtet haben.«
»Ich habe weitere Neuigkeiten«, verkündete Warren. »Die Ritter der Morgendämmerung halten ihre erste Vollversammlung seit über zehn Jahren ab. Alle Ritter sollen teilnehmen.«
Coulter seufzte. »Das ist niemals ein gutes Zeichen. Die letzte Vollversammlung, an der ich teilgenommen habe, fand statt, nachdem konkrete Beweise für das Wiederaufleben der Gesellschaft des Abendsterns ans Licht gekommen waren.«
»Sie sind ebenfalls ein Ritter?«, fragte Seth.
»Im Halbruhestand«, antwortete Coulter. »Wir sollen uns eigentlich nicht offenbaren, aber ich schätze, wenn ich euch nicht trauen kann, kann ich niemandem trauen. Außerdem werde ich in nicht allzu ferner Zukunft in einem kalten Grab liegen.«
»Das ist noch nicht alles«, fuhr Warren fort. »Der Hauptmann will, dass ich Kendra zur Vollversammlung mitbringe.«
»Was?«, rief Opa aus. »Das ist ungeheuerlich!«
»Nur Ritter werden zu den Versammlungen eingeladen«, warf Oma ein.
»Ich weiß, ich weiß. Aber erschießt bitte nicht den Boten«, sagte Warren beschwichtigend. »Sie wollen sie aufnehmen.«
»In ihrem Alter!«, entrüstete sich Opa, und sein Gesicht wurde rot. »Rekrutieren sie heutzutage schon auf der Entbindungsstation?«
»Und wir wissen alle, wer der Hauptmann ist«, fügte Warren hinzu, »obwohl er sich niemals offen zeigt.«
»Der Sphinx?«, vermutete Kendra.
Opa nickte nachdenklich und biss sich auf die Unterlippe. »Haben sie einen Grund genannt?«
»Der Hauptmann hat angedeutet, dass sie über Talente verfügt, die von größter Bedeutung dafür sein könnten, den kommenden Sturm abzuwettern«, erklärte Warren.
Opa begrub das Gesicht in den Händen. »Was habe ich getan?«, stöhnte er. »Es war meine Entscheidung, sie überhaupt mit dem Sphinx bekannt zu machen. Und jetzt will er – ob er nun gut oder böse ist – ihre Fähigkeiten ausbeuten.«
»Wir können sie nicht hingehen lassen«, sagte Oma entschieden. »Wenn der Sphinx außerdem der Anführer der Gesellschaft ist, ist dies zweifellos eine Falle. Wer weiß, wie viele andere Ritter noch korrupt sind!«
»Ich habe mit vielen der Ritter zusammengearbeitet«, meldete Tanu sich zu Wort. »Ich habe gesehen, wie sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt oder sogar geopfert haben. Und ich würde mich dafür verbürgen, dass die meisten von ihnen ehrenhafte Beschützer der Reservate sind. Wenn die Ritter unserer Sache schaden, dann deshalb, weil sie übertölpelt wurden.«
»Sie sind ebenfalls ein Ritter?«, fragte Seth.
»Wie Warren sind auch Tanu, Coulter und Vanessa Ritter der Morgendämmerung«, erläuterte Opa.
»Vanessa hat sich ja nicht als besonders ehrenhaft erwiesen«, merkte Seth an.
»Was ein weiteres gutes Argument ist«, sagte Oma. »Selbst wenn der Sphinx auf unserer Seite steht, beweist Vanessa, dass die Ritter zumindest einige Verräter in ihren
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