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Die Schattenplage

Die Schattenplage

Titel: Die Schattenplage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brandon Mull
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wusste, dass sie nicht hinschauen sollte, konnte sie nicht anders, als den Blick zu Gavin wandern zu lassen, der in fünfzig Meter Entfernung mit dem Rücken zu ihnen stand, die Beine gespreizt, die Arme weit ausgebreitet, und mit den Augen einen Drachen fixierte, der auf einem länglichen Fels kauerte. Wie gebannt schienen sie einander anzustarren und rührten sich nicht.
    Das Drachenweibchen glänzte wie ein nagelneues Ein-Cent-Stück, denn sie war am ganzen Körper von sich überlappenden Kupferschuppen umhüllt wie von einer schillernden Rüstung. Vom Scheitel ihres grimmigen Kopfes verlief ein hoher Stachelkamm bis zum Ansatz des langen Halses. Sie hatte einen peitschenähnlichen Schwanz und einen Körper von der Größe eines ausgewachsenen Elefantenbullen. Die glänzenden Flügel der Bestie lagen zusammengefaltet an ihren Flanken.
    Als der Blick des Ungeheuers zu Kendra hinüberwanderte, sah sie, dass seine Augen leuchteten wie flüssiges Gold.
    Das Maul öffnete sich einen Spaltbreit zu einer reißzahnbewehrten Imitation eines Lächelns. »Du wagst es, mir in die Augen zu sehen, Kleine?«, fragte das Drachenweibchen, und ihre seidige Stimme hallte durch die Höhle wie der Nachklang vibrierenden Metalls.
    Kendra wusste nicht, was sie tun sollte. Sie kam sich töricht vor, weil sie ihre Anweisungen nicht befolgt hatte. Sie hatte sich Sorgen um Gavin gemacht, und der Drache hatte so faszinierend ausgesehen. Jetzt aber wurde ihr selbst unter dem glühenden Blick des Drachenweibchens eiskalt, und ihre Glieder wurden taub. Was hatte Warren noch gleich über Drachenzähmer gesagt: Die meisten Leute erstarren, wenn Drachen das Wort an sie richten; Drachenzähmer antworten.
    »Du bist sehr schön«, sagte sie mit der lautesten Stimme, die sie zuwege brachte. »Meine Augen konnten nicht widerstehen!«
    »Oh, sie ist ja geradezu beredt«, meinte die Drachendame und hielt den Blick fest auf Kendra gerichtet. »Komm näher, mein Schätzchen.«
    »Kendra, wende den Blick ab!«, befahl Gavin. »Chalize, vergiss unsere Abmachung nicht.«
    Kendra versuchte, den Kopf zu drehen, aber die Muskeln in ihrem Nacken wollten nicht reagieren. Sie versuchte, die Augen zu schließen, aber ihre Lider weigerten sich zu funktionieren. Doch obwohl sie wie gelähmt vor Angst war, blieb ihr Verstand klar.
    »Deine Gefährten sollten mich nicht ansehen«, sang Chalize, während sie Kendra noch immer mit ihren leuchtenden Augen durchbohrte. Dann bewegte sich die Drachendame plötzlich und duckte sich, als mache sie sich zum Sprung bereit.
    »Vergiss dich nicht, Wurm!«, brüllte Gavin.
    Chalize schaute ihn mit schmalen Augen an. »Wurm nennst du mich?«
    Kendra senkte endlich den Blick. Warren kam neben sie gesprungen, Dougan auf der anderen Seite, und gemeinsam zogen sie Kendra hastig davon. Sie schlurfte zwischen ihnen einher und lauschte auf das Gespräch, ohne den Blick zu heben.
    »Sie hat höflich mit dir gesprochen, Chalize«, sagte Gavin. »Euresgleichen darf nur verschlingen, wenn es einen Grund dafür gibt.«
    »Sie hat dein Versprechen gebrochen und mich angesehen. Welchen weiteren Grund bräuchte ich also?« Ihre Worte klangen so hart wie aufeinanderklirrende Schwerter.
    Gavin wechselte in eine unverständliche Sprache, die so weit entfernt von allen Menschsprachen war wie das Pfeifen der Delfine oder die Gesänge der Wale. Die Drachendame antwortete mit ähnlichen Lauten, und sie sprachen jetzt lauter als zuvor auf Englisch.
    Kendra verspürte den starken Drang, sich umzudrehen. Beeinflusste die Drachendame sie noch immer, oder hatte sie einfach den Verstand verloren? Sie widerstand dem spontanen Impuls und hielt ihren Blick von Gavin und Chalize abgewandt. Schließlich erreichten sie den Fuß einer langen, breiten Treppe, und während sie hinaufgingen, endete der Streit. Kendra hoffte, dass Gavin die Drachendame abermals mit seinem Blick bezwungen hatte. Wie war er nur damit durchgekommen, sie zu beleidigen? Wie konnte er sich in ihrer eigenen Sprache mit Chalize unterhalten, einer Sprache, die offensichtlich nicht einmal die Feen kannten, da Kendra keinen Teil des Wortwechsels verstanden hatte? Hinter Gavin steckte gewiss mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
    Die Treppe endete vor einer tiefen Nische mit einer eisernen Tür. Die Tür erwies sich als verschlossen, und ein Schlüssel war nirgends zu sehen, also warteten sie; keiner von ihnen wagte, sich umzudrehen.
    Schließlich hörten sie schnelle Schritte die

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