Die Schattenplage
Schulter zu Opa hinüber. Er bewegte sich nicht, nur die Hand, mit der er die Taschenlampe umklammert hielt, zitterte.
»Richte das Licht auf das Ding in der Ecke«, sagte Seth. Gegenwärtig beleuchtete der Lichtstrahl den durchgesackten Tisch.
Opa bewegte sich nicht. Er reagierte nicht mal.
Und dann erklang eine Stimme, tiefer als jede Stimme, die Seth jemals gehört hatte, langsam und gequält, als stünde ihr Besitzer am Rand des Todes. »Du … fürchtest … mich … nicht?«
Seth blinzelte die von Spinnweben umhüllte Gestalt in der Ecke an. »Natürlich fürchte ich dich«, antwortete er und trat näher heran. »Aber meine Freunde sagten, dass du mit mir sprechen willst.«
Die Gestalt regte sich, so dass sich die Spinnweben kräuselten und Staub in die Luft aufstieg. »Du … verspürst … keine … Angst … wie … in … dem Hain?« Der Sprecher klang traurig und müde.
»Bei dem Wiedergänger? Woher weißt du davon? Ich verspüre keine Angst, wie ich sie dort gespürt habe. Die Angst dort war unkontrollierbar.«
Die Gestalt regte sich abermals. Eine der Spinnweben zerriss, und die dröhnende Stimme gewann ein wenig an Kraft. »Dein Großpapa … befindet sich jetzt in den Klauen solcher Angst. Nimm … sein Licht … und komm näher.«
Seth ging zu Opa hinüber, der sich noch immer nicht bewegt hatte. Dann stieß er ihn sanft in die Rippen, bekam als Reaktion aber nur ein schlaffes Zucken. Warum war Opa so erstarrt? Richtete Graulas seine Magie speziell auf ihn? Ein verschlagener Teil von Seths Verstand wünschte, dass Opa in diesem Zustand bleiben möge, damit er keine Schwierigkeiten bekam, wenn sie es lebend wieder nach draußen schafften. Seth entriss seinem Großvater die Taschenlampe.
»Wird Opa wieder in Ordnung kommen?«, fragte Seth.
»Das wird er.«
»Du bist Graulas?«
»Der bin ich. Komm näher.«
Seth bahnte sich einen Weg durch die Trümmer und näherte sich dem Dämon. Mit einer dicken, knorrigen Hand schälte der Dämon Spinnweben weg. Staub stieg von seinen Kleidern auf.
Würgend hielt Seth sich Mund und Nase zu wegen des eitrigen Gestanks. Obwohl der Dämon auf dem Boden saß und zu einer Seite gekippt war, reichte Seth ihm nur bis zu seiner aufgedunsenen Schulter.
Als die Taschenlampe das Gesicht des Dämons beleuchtete, machte Seth unwillkürlich einen Schritt zurück. Seine Haut sah aus wie die auf dem Kopf eines Truthahns, rot und faltig und schlaff, als wäre sie von einer schrecklichen Infektion befallen. Er war kahlköpfig und hatte keine Ohren. Zwei verschlungene Widderhörner ragten aus den Seiten seines breiten Schädels, und ein milchiger Film trübte seine kalten, schwarzen Augen.
»Würdest du glauben … dass ich früher einmal … einer der sechs … gefürchtetsten … und am meisten respektierten … Dämonen … auf der Welt war?«, fragte er, und das Atmen bereitete ihm sichtlich Mühe. Sein ganzer Körper zitterte von der Anstrengung eines jeden keuchenden Atemzugs.
»Sicher«, antwortete Seth.
Der Dämon schüttelte den Kopf, und Falten roten Fleisches schwabbelten hin und her. »Sei nicht so herablassend.«
»Das bin ich nicht. Ich glaube dir.«
Graulas hustete. Spinnweben flatterten, und Staub wirbelte. »Nichts … hat seit Jahrhunderten … mein Interesse erregt«, knurrte er erschöpft. Er schloss die Augen. Seine Atmung verlangsamte sich, und seine Stimme wurde fester. »Ich bin in diesen jämmerlichen Zoo gekommen, um zu sterben, Seth, aber das Sterben vollzieht sich bei meinesgleichen so unendlich langsam. Hunger kann mich nicht bezwingen. Krankheiten können mir nichts anhaben. Ich schlafe, aber ich ruhe nicht.«
»Warum bist du zum Sterben hierher gekommen?«, fragte Seth.
»Um mein Schicksal anzunehmen. Ich habe wahre Größe gekannt, Seth. Aus solcher Höhe abzustürzen, von den schwindelerregendsten Höhen bis in die tiefsten Tiefen, zu wissen, dass man es vielleicht hätte verhindern können, davon überzeugt, dass man nie wieder zurückgewinnen kann, was man verloren hat – das verkrüppelt den Willen. Das Leben besitzt nicht mehr Bedeutung, als man ihm selbst beimisst, und ich habe vor langer Zeit aufgehört, mir etwas vorzumachen.«
»Das tut mir leid«, sagte Seth. »Du hast eine große Spinne an deinem Arm.«
»Egal«, schnaufte der Dämon. »Ich habe dich nicht gerufen, damit du meinen Zustand bemitleidest. So schlaftrunken ich auch geworden sein mag, reicht es doch nicht aus, um all meine Gaben zu lähmen, stumpf zu
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