Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
als sie gähnte. Sie wandte sich ab und ließ die Unterwäsche einfach fallen, um duschen zu können. Sie ließ sich Zeit damit, sich fertig zu machen, auch wenn sie mit Absicht nicht allzu viel an ihrem Äußeren tat. Adrian sollte nicht das Gefühl bekommen, dass sie sich für ihn herausputzte. Er hatte in ihrer Beziehung immer wieder darauf gedrängt, dass sie mehr aus ihrem Äußeren machte. Als sie damals ihre Haare geschnitten hatte, war er nahezu entsetzt gewesen – Zoe verstand bis heute nicht, warum. Es war ja nicht so, als hätte sie ihre Mähne radikal abrasiert. Die dichten Strähnen waren nur bis zu ihrem Nacken gekürzt worden.
In einfacher Jeans, Sneakers und einem überweiten Sweatshirt machte sie sich auf den Weg zur Wache.
Adrian arbeitete nur zwei Bushaltestellen von Zoes Wohnung entfernt, und kurz darauf befand sie sich schon vor dem Eingang der Polizeiwache. Es war eine ruhige Nacht gewesen, sah man mal von dem Mord im Wark ab, und auch tagsüber gab es nicht viel mehr zu tun. Zoe betrat die Wache und sah sich um. Der Geruch von billiger Seife empfing sie, und nach der hellen Mittagssonne war das dumpfe Licht der Leuchten unangenehm. Zoe ging an einer Art Glaskasten vorbei, hinter dem ein Polizist in Uniform gerade ein Kreuzworträtsel löste. Er blickte auf, als er die Gummisohlen ihrer Sneaker über den erbsengrünen Linoleumboden quietschen hörte, und auf seinem breiten Gesicht erschien ein Lächeln. »Tag, Zoe, ist doch gar nicht deine Zeit?«
»Hallo, Mike. Ich dachte, ich wechsle mal in die Tagschicht«, lächelte sie und ging weiter den Flur entlang. Die Wände des Flurs waren gesäumt mit Holztüren, die in einem hellen Grau gestrichen waren. Wenn man sich nicht auskannte, sah eine Tür wie die andere aus, aber Zoe wusste mittlerweile, welcher Beamte hinter welcher Tür saß. Sie öffnete die dritte Tür und lugte hinein, aber das enge Büro war leer. Adrian war nicht da.
Sie schloss die Tür wieder und ging bis zum Ende des Flures, wo sich die Verhörräume befanden. Tatsächlich fand sie Adrian dort. Er saß am Tisch, einem Mann gegenüber, mit dem die letzte Zeit nicht wirklich gut umgegangen war. Er war gebeugt und sein halblanges Haar fiel ihm wirr ins Gesicht. Er hatte Zoe den Rücken zugekehrt und schien sich auf dem Tisch abzustützen. Seine Arme und sein Rücken zitterten deutlich, als könnte er jeden Augenblick zusammenbrechen.
Adrian trug den dicken dunkelblauen Rippenpulli der Polizisten und hatte sie noch nicht bemerkt. Seine vollen Lippen waren zu dünnen Strichen gepresst, aber Zoe war sich nicht sicher, ob er es aus Mitleid oder Wut tat. Bei Adrian war das immer schwer zu sagen.
»Also, noch einmal«, sagte er mit müder Stimme. »Was hatten Sie in der Gasse zu suchen? Warum haben Sie sich mit den beiden Herren angelegt?«
Der Mann am Tisch murmelte etwas, was Zoe nicht verstand, aber Adrian verdrehte die Augen. »Das glaubt Ihnen sowieso keiner – niemand läuft einfach so in eine Schlägerei rein. Die beiden Männer belasten Sie. Was wollten Sie von den beiden?«
»Weiß nicht«, murmelte der Mann schließlich laut genug, dass auch Zoe ihn verstand. Adrians Hand knallte auf den Tisch, sodass selbst Zoe zusammenzuckte, aber der Mann wich nicht einmal zurück. Durch die Bewegung wurde Adrian auf sie aufmerksam. Er stand auf und warf einen letzten versichernden Blick auf den zitternden Mann, aber der machte keine Anstalten, sich wegzubewegen oder Ärger zu machen.
»Warum hast du nicht draußen gewartet?«, fragte Adrian, nachdem er sie begrüßt hatte, und küsste sie auf die Wange. Zoe hielt einfach still. »Mir war es zu langweilig draußen. Was ist mit ihm?« Sie deutete mit einem kurzen Nicken auf den Mann am Tisch.
»Irgendein Junkie, der sich mit den falschen Leuten angelegt hat. Anscheinend braucht er den nächsten Schuss, so wie er zittert.« Adrian atmete tief durch. »Ich hoffe nur, er klappt uns hier nicht zusammen.«
»Lass ihn doch gehen – so wie er aussieht, hält er dein Verhör nicht einen Moment länger durch.«
»Ich sagte doch, er hat sich mit den falschen Leuten angelegt. Die beiden Männer, mit denen er sich geprügelt hat, sagen einstimmig aus, er wäre auf sie losgegangen, als sie versucht hatten, ein Mädchen vor seinen Übergriffen zu schützen.«
»Glaubst du das?«
Adrian rieb sich über die Augenlider. Zoe sah die roten Adern in den ansonsten weißen Augäpfeln und spürte Mitleid in sich aufkeimen. Die Nachtschicht bei der
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