Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
blass wie ihre Haut und die Augen. Das Gesicht wurde durch mehrere Blutergüsse verunstaltet. Ihr linkes Auge schwoll bereits zu, und die Wange zierte ein dunkler Bluterguss.
Für Caes war sie eindeutig alt genug, und Cale schauderte, als er das offensichtliche Begehren des Dämons fühlte, der seine Abscheu vor dem sich windenden Mann schnell überwunden hatte. Cale aber verspürte nur Mitleid und ein wenig Ratlosigkeit. Er hätte damit gerechnet, dass sie weinte, schrie oder einfach vor ihm davonlief. Aber das tat sie nicht. Stattdessen hob sie die Hand und berührte Cales Brust. Die Berührung war warm, und für einen Moment schwiegen sogar der brüllende Schmerz und die Schwäche in Cales Gliedern. »Du bist ein seltsamer Retter, Cale«, sagte sie mit einer tiefen, sehr alt klingenden Stimme. »Aber du hast deine Sache gut gemacht.«
Mit diesen Worten löste sie sich einfach in glitzernde Funken auf, die vor Cales Augen durch die Luft tanzten und mit einem Mal auseinanderstoben, als hätte ein Windstoß sie erfasst. Cale hatte das Gefühl, dass alle Kraft und jeder Gedanke mit einem Schlag aus seinem Körper wichen. Erschöpft ging er in die Knie und brach in der stinkenden dunklen Gasse zusammen.
Das Klingeln des Weckers vereinigte sich mit dem Klingeln des Telefons zu einer nervenzerreißenden Kakofonie, die Zoe entnervt stöhnend ihr Kopfkissen über den Kopf ziehen ließ. Es brachte nichts – wütend schleuderte sie das Kissen durch ihr Schlafzimmer und warf den Wecker hinterher. Er verstummte mit einem gequälten Schrillen, aber das Telefon klingelte weiter. Zoe schob sich aus dem Bett und bewegte sich mit Absicht so langsam wie möglich, in der Hoffnung, dass das Klingeln einfach aufhören würde, aber das Telefon war hartnäckig. In das helle Sonnenlicht blinzelnd, ging Zoe ins Wohnzimmer und griff nach dem Telefonhörer. »Was?!«
»Hey, Charm, du bist noch nicht wach?«
Adrians Stimme klang nicht anders als noch wenige Stunden zuvor. Zoe erinnerte sich stöhnend, dass er kaum Schlaf brauchte und noch dazu ein notorisch gut gelaunter Mensch war. »Wie spät ist es?«, nuschelte sie und zog sich eine Hose vom Wäscheständer, der in der Ecke stand.
»Zwei Uhr nachmittags. Ich hatte gedacht, du würdest schon längst hier sein, um dich auf den neuesten Stand zu bringen. Du weißt schon, neue Nachrichten wegen unseres herzlosen Todesopfers.«
Zoe stöhnte abermals. Nach dem Treffen in der letzten Nacht war sie noch lange in Gedanken versunken herumgelaufen und erst ins Bett gefallen, als die Sonne längst aufgegangen war. Nach der Begegnung mit Dumas, einem Engel, erschien ihr alles andere so unwirklich und auch unwichtig.
»Kein Interesse mehr?«, hakte Adrian nach, als Zoe nicht antwortete.
»Doch, doch«, murmelte sie und strich sich die langen Ponysträhnen aus dem Gesicht. Sie trug ihr Haar gerne kurz, aber die langen Ponysträhnen waren ein kleines Zugeständnis an das Klischee der fotografierenden exzentrischen Künstlerin. »Du hast mich nur auf dem falschen Fuß erwischt – ich bin noch nicht wach. Wie lange bist du denn noch auf der Wache?«
»Ich habe um drei Uhr Schluss. Hol mich ab, dann lade ich dich zum Essen ein und ich erzähle dir, was genau sich bisher ergeben hat.«
Abermals zögerte Zoe. Die letzte Nacht stand ihr noch so deutlich vor Augen – die Erinnerung an Adrians Fehltritt, aber auch ihre Zusage. Sie wollte Dumas helfen, einen Mörder zu stellen, und dafür war es gut, wenn sie so nah an der möglichen Spur dranblieb wie möglich. Auch wenn sie im Augenblick so wenig wie möglich mit Adrian zu tun haben wollte, sagte sie: »Ja, essen gehen klingt gut. Ich brauche dringend Kohlehydrate und ein bisschen Fett.«
»Siehst du – also dann bis gleich auf der Wache.«
Zoe ließ den Hörer einfach fallen, nachdem sie die rote Taste gedrückt hatte, und strich sich stöhnend über das Gesicht. Die Hose ließ sie liegen und stolperte, nur in ihrer Unterwäsche, ins Badezimmer. Aus dem Augenwinkel erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild und sah genauer hin. Sie sah genauso aus wie immer, ein wenig übernächtigter vielleicht, aber doch wie Zoe. Der Anblick enttäuschte sie etwas. Nach der Begegnung mit einem Engel hatte sie mit etwas Spektakulärerem gerechnet. Vielleicht mit einer Art Leuchten oder Strahlen, irgendetwas, das als Beweis für diese göttliche Begegnung diente.
Aber alles, was Zoe sah, waren Augenringe, zerzauste rötliche Haare und ihren weit aufgerissenen Mund,
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