Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
ernährten, besonders gerne von den unverdünnten ursprünglichen Gefühlen der Lust und der Angst. Nirgendwo sonst war die Lebenskraft so rein und konzentriert, ausgenommen vielleicht im menschlichen Herzen, aber das war tabu. Es hatte zu früherer Zeit zu viel Aufmerksamkeit erregt. Einen Werwolf hatten die Dämonen selbst aus dem Verkehr ziehen müssen, weil er die Aufmerksamkeit der viktorianischen Welt auf sich und damit auch auf alle Dämonen auf der Welt gelenkt hätte – er hatte sich als Jack the Ripper sogar einen albernen kleinen Spitznamen zugelegt, der selbst heute noch genutzt wurde.
Cale trocknete sich fahrig die Haare und zog sich rasch an. Es war eine Wohltat, in saubere, nicht nach Blut und Urin stinkende Kleidung zu schlüpfen, aber das Wohlbehagen währte nur kurz. Cale musste aus der Agentur verschwinden und Hilfe oder Antworten suchen. Da draußen war noch immer der Mörder Lexas, und wenn er binnen einer Nacht und eines Tages schon zwei Dämonen ermordet hatte, wer wusste, was in der kommenden Nacht bevorstand?
Ein kurzer Blick nach draußen zeigte Cale das erste Rot der Abenddämmerung. Caes’ Raserei hatte länger gedauert als angenommen.
Cale streifte sich seine Lederjacke über und lief die Treppen hinunter. Aus dem Zimmer nahm er nichts mit – es wäre auffällig gewesen, und außerdem bedeutete ihm nichts darin etwas. Unwillkürlich fuhr seine Hand zu seiner Brust, auf der er den winzigen Metallanhänger spürte. Was er brauchte, hatte er bei sich.
Schnell schlüpfte er aus der Tür, ohne noch einen Blick in den Aufenthaltsraum zu werfen, wo Lexa noch immer lag. Cale hatte sie nicht weiter berührt, sondern sie einfach liegen gelassen. Für Dämonen waren Leichen nichts weiter als eine leere Hülle, und nach 150 Jahren mit einem Dämon begann man als Mensch, die Sache ähnlich zu sehen.
Auf der Straße vor dem Haus wälzte sich der Feierabendverkehr voran. Cale hatte, trotz des geringen Sonnenlichts, seine Sonnenbrille aus der Jackentasche gezogen und sie aufgesetzt. Je weniger man von ihm erkannte, desto weniger konnte man ihn bei einer eventuellen späteren Suche nach dem potenziellen Zeugen aus der Agentur identifizieren. Die Hände in den Taschen seiner Jeans, bewegte er sich ziellos durch Edinburghs Straßen, ohne den Blick zu heben. ›Also?‹, fragte er nach einer Weile, ›hast du irgendeinen Plan?‹
Caes schwieg so lange, dass Cale versucht war, noch einmal zu fragen, aber da erfüllte Caes’ kratzige Stimme seinen Kopf. › Wir brauchen Hilfe bei der Suche‹ , sagte er leise. › Das ist nichts, mit dem du fertig werden würdest, und ich kann deinen Körper nicht verlassen.‹
› Danke für den Hinweis‹, erwiderte Cale trocken. ›Und wo soll ich Hilfe finden?‹
› Wir brauchen einen der Unparteiischen. Und das sehr schnell.‹
Cale wich einem Pärchen aus, das ihm auf dem engen Gehsteig entgegenkam und Händchen hielt. Sie bemerkten ihn gar nicht. ›Was für Unparteiische?‹
› Sie sind in der Hölle erschaffen worden, dienen aber dem Himmel. Du hast Glück – einer von ihnen hat sich sogar in Edinburgh niedergelassen. Er ist ein alter Nostalgiker.‹ Trotz Caes’ unterschwellig schwelender Wut war da so etwas wie ein unterdrücktes Lachen. Cale schauderte. ›Ich nehme an, ein alter Freund von dir?‹, fragte er.
Caes ging gar nicht darauf ein. › Sieh einfach zu, dass du es zum Royal Hill schaffst, Fleischsack.‹
Zoe schob sich die letzte Pommes in den Mund und wischte sich die fettigen Hände an einer zerknüllten Papierserviette ab. Der frittierte Fisch lag ihr schwer im Magen und leistete dabei der doppelten Portion Pommes Gesellschaft. Eigentlich hätte sie mit Adrian in eines der netten kleinen Lokale gehen und dort etwas Anständiges zu Mittag essen sollen, aber sie hatte ihre Verabredung kurzerhand verschoben. Der Zusammenstoß mit dem Junkie ging ihr nicht aus dem Kopf, und nach der vergangenen Nacht war sie ohnehin leicht reizbar. Adrian war verständnisvoll wie immer gewesen, hatte sie aber schlussendlich doch einfach allein gehen lassen.
Sie hatte einfach an ihrer Bushaltestelle eine Portion fettigen Fisch mitgenommen und in ihrer Küche stehen lassen. Emotionaler Stress ließ Zoe immer körperlich erschöpft zurück, und so hatte sie sich für einige Stunden hingelegt. Als sie aufgewacht war, war der Tag schon weit vorangeschritten gewesen, und erst nach einer Dusche, dem kalt gewordenen Fisch und einer Dose Bier fühlte sie sich
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