Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
verschlafen.
»Wir spüren es, wenn jemand Unsterbliches in unserer Nähe sein Leben verliert. Es ist wie ein stummer Schrei, den man nicht mit den Ohren, sondern mit dem Körper hört.«
Als sie einmal mehr an Dumas’ nicht menschliche Natur erinnert wurde, schwieg sie. Wie unterhielt man sich mit einem Engel? Was durfte sie fragen und was nicht?
Sie sprachen nicht mehr, bis sie zu ihrem Zielort kamen. Dumas, weil er wahrscheinlich zu sehr auf die Straße konzentriert war, und Zoe, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Erstaunt bemerkte sie, dass sie wieder nach Leith fuhren. Es wurde langsam immer dunkler, aber sie konnte gut genug erkennen, wo sie waren.
Vor einem Reihenhaus stellte Dumas den Motor ab und stieg aus. Zoe folgte ihm rasch die Stufen zur Tür hinauf und bemerkte, dass die nur angelehnt war. Sie hatte keinen Knauf – früher hatte man anscheinend Zugang durch ein Codepad neben der Tür erhalten, aber bis auf ein dunkles Loch war dort nichts mehr zu sehen. Eine seltsame Sicherung für Räume in einer so heruntergekommenen Gegend wie Leith, aber genutzt hatte sie anscheinend auch nicht.
Dumas schob die Tür auf und ging ins Innere des Hauses. Zoe riss die Augen auf. Der Flur war geschmackvoll, wenn auch protzig eingerichtet, aber das Ambiente litt stark durch das Chaos umhergeworfener Möbel, zersplitterter Vitrinen und heruntergerissener Vorhänge. Die letzten Sonnenstrahlen drangen ungehindert durch die Fenster und offenbarten ein verheerendes Szenario. »War ... war das ...?«
Zoe führte den Satz nicht zu Ende. Dumas war weitergegangen und stand mit dem Rücken zu ihr, den Kopf gesenkt. Er hob die Hand und winkte Zoe näher. Sie versuchte, ihren Weg durch das Chaos zu bahnen, und wäre fast auf die Frau am Boden getreten. Sie lag still da, und Zoe hätte sie beinahe gar nicht wahrgenommen. Zoe verharrte. »Ist sie das? Ist sie ein Engel?«, fragte sie leise.
Dumas nickte und zog leicht den Stoff seiner Anzughose höher, um sich auf den Boden zu knien. Es bereitete ihm keine Mühe, sein Knie zwischen zwei abgebrochenen Stuhlbeinen zu platzieren. Er untersuchte die Frau – sie war schön gewesen, nahezu perfekt. Im Tod war ihr Gesicht weiß wie Porzellan und verlieh ihrer Schönheit etwas Unnatürliches. Die rot geschminkten Lippen stachen hervor, aber was Zoe kalt erschaudern ließ, war die klaffende Wunde in ihrer Brust. Sie hätte alles darauf verwettet, dass auch bei dieser Leiche das Herz fehlte.
Dumas seufzte und stand wieder auf. »Eindeutig, er war es«, sagte er mit düsterer Stimme. »Es ist schon einige Zeit her – ich befürchte, das Blut ist getrocknet. Reicht es dennoch für Ihre Zwecke?«
»Ja. Allerdings wäre mir wohler dabei, wenn ich einfach etwas Blut mitnehmen könnte. Ich will nicht zuckend an einem Mordschauplatz von der Polizei aufgegriffen werden.«
»Bitte machen Sie sich darüber keine Sorgen. Beginnen Sie einfach.«
Zoe sah ihn düster an, aber auch wenn seine Miene freundlich war, hatte Zoe das unbestimmte Gefühl, dass er weiteren Widerspruch nicht akzeptieren würde. Also kniete sie sich diesmal zu der Leiche. Neben der Frau hatte sich eine Blutlache gebildet – einiges war von ihrer Kleidung aufgesogen worden, aber einige der größeren Flecke waren noch nicht ganz ausgetrocknet. Das Blut hatte hier nur eine dickere Konsistenz angenommen.
Zoe hob den Kopf und sah sich um. Als sie die umgekippte Couch sah, stand sie auf und schob sie einfach zur Seite. Zwar wusste sie von Adrian, dass nichts an einem Tatort verändert werden sollte, aber zum einen ging es hier um einen Mörder, gegen den die Polizei höchstwahrscheinlich nicht viel ausrichten konnte, zum anderen konnte Zoes Gabe die Suche nach diesem Killer entscheidend beschleunigen.
Sie schob die Couch noch etwas weiter, bis sie genug Platz auf dem Teppich geschaffen hatte, sodass sie sich gefahrlos ausstrecken konnte.
Dumas stand in der Ecke des Raumes und beobachtete sie, aber Zoe ignorierte ihn. Es war das erste Mal, dass ihr jemand beim Blutlesen zusehen würde, aber sie wollte sich nicht ablenken lassen. Als sie sicher sein konnte, dass sie sich gefahrlos hinlegen konnte, ging sie zurück zu der Leiche. Sie nahm ein wenig von dem angetrockneten Blut und ging damit zu der freien Stelle. Als sie lag, legte sie sich das rote Klümpchen auf die Zunge und verzog ein wenig angewidert das Gesicht, als es sich in ihrem Mund auflöste. Das flüssige Blut rann ihre Kehle hinab, und Zoe wappnete
Weitere Kostenlose Bücher