Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
geduldiger zu sein. Wir …‹
Cale brach ab, als sich das Amulett plötzlich veränderte. Die schwarze Oberfläche des Steins wellte sich; ölige Schlieren, schillernd wie ein Regenbogen, wanden sich darauf. Cale und Caes hielten den Atem an und starrten gebannt auf den Stein. Die Schlieren wanden sich hin und her, zuckten mal nach oben und unten, als könnten sie sich nicht entscheiden, zu welcher Seite sie wollten. Schließlich drängten sie sich an der rechten Seite des Amuletts zusammen, zitterten und sprangen in einem einzigen hastigen Schub zum Boden des Amuletts.
Cale leckte sich über die trockenen Lippen und sah hinunter. Unter ihm liefen Menschen die Straße entlang. Keiner von ihnen wirkte sonderlich auffällig. Cale beugte sich vor und hielt das Amulett tiefer. Die Schlieren vibrierten in einem aufgeregten Rhythmus. Rasch kletterte er von dem Dach hinunter zur Straße und sprang das letzte Stück in eine Seitengasse, damit niemand ihn vom Dach springen sah und möglicherweise falsche Schlüsse zog. Er zog rasch seine Jacke zurecht und lief auf die Straße. Das Amulett in seiner Tasche vibrierte deutlich. Cale sah sich um, die Hände in den Jackentaschen, und versuchte auszumachen, welche dieser Personen ein Engel sein könnte. Sein Blick blieb an einem breitschultrigen Mann mit langem Haar hängen.
Als er seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete, wurde das Amulett glühend heiß und Cale riss seine Hand zurück. Er unterdrückte einen Fluch und beeilte sich, dem Mann in dem langen, abgetragenen Ledermantel zu folgen. Durch den Stoff seiner Jacke spürte er das Amulett heiß gegen seinen Oberschenkel brennen. Der Mann hatte ihn glücklicherweise noch nicht entdeckt. Seelenruhig lief er weiter den Hügel hinab, die Mile entlang in Richtung des Stadtzentrums. Cale verlangsamte seinen Schritt, wann immer der Mann stehen blieb und sich umsah. Das tat er an jeder Kirche und Kapelle, die sie passierten. Für Cale war das nur ein weiterer Hinweis, und er behielt sein Opfer so gut es ging im Auge.
Nach und nach verschwanden die Touristengeschäfte, die Dudelsäcke, Scones und anderen Tand anboten, und wichen kleinen Schnellrestaurants, in deren Auslagen Neonschilder auf das Essensangebot im Innern aufmerksam machten.
Auch die Menschen wurden nach und nach immer weniger. Der Mann war kurz vor dem Ende der Mile in ein Wohngebiet abgebogen, in dem kaum Verkehr herrschte und kaum jemand auf der Straße zu sehen war. ›Vorsicht‹, knurrte Caes.
Cale nickte unbewusst. Das sah nach einer Falle aus – hatte der Fremde ihn doch bemerkt? Cale sah auf und biss die Zähne zusammen. Der Mann war verschwunden!
› Fleischsack! ‹, fauchte Caes. › Warum hast du nicht aufgepasst? ‹
»Weil du mich abgelenkt hast«, knurrte Cale und lief schnell vorwärts. Das Amulett brannte noch immer in seiner Tasche, was bedeutete, der Engel konnte nicht weit sein.
› Ich habe dich gewarnt, nicht abgelenkt ‹, erwiderte Caes, aber Cale beachtete ihn kaum. Er sah in jede Seitengasse, die er passierte, aber nirgendwo eine Spur des Engels. Cale fluchte lauthals, drehte sich um – und starrte dem Fremden direkt ins Gesicht.
Er war groß, breite Schultern, ebenso breiter Kiefer und riesige, kräftige Hände. Cale wurde blass. Der Engel starrte ihn kalt an. Dann packte er ihn plötzlich am Hals, und ehe er sichs versah, wurde Cale in die Höhe gerissen und auf eines der nahen Flachdächer geschleudert. Sein Flug endete auf dem Rücken, und die Wucht des Aufpralls quetschte ihm die Luft aus den Lungenflügeln. Er japste, rang nach Atem und drehte sich instinktiv auf den Bauch.
Ein Rauschen ertönte, schien den gesamten Himmel auszufüllen, und der Engel landete für seine massive Gestalt überraschend elegant neben Cale. Für einen winzigen Augenblick blitzten die weißen Federn seiner Flügel im Sonnenlicht auf, ehe sie verschwanden. Cale handelte instinktiv. Er presste seine Hand gegen seine Hüfte, auf die Tätowierung seiner Rune, und brüllte Caes’ vollen Namen. Im nächsten Augenblick spürte er, wie der Dämon seinen Körper übernahm, und für einen kurzen Moment brachte er diesen Ort in die Hölle. Hier gab es kein Sonnenlicht – ewiges Zwielicht verdunkelte den Himmel. Der Boden, auf dem sie standen, war aufgerissen und trocken. Einige Bäume quälten sich aus dem kargen Boden, doch sie wurden für ihre Mühe nicht belohnt. Ihre Äste waren ebenso vertrocknet wie der Grund und krümmten sich wie flehende Finger in die
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