Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Höhe. Doch dies war die Hölle. Hier würde niemand ihr Flehen erhören.
Doch an diesem Ort konnte Caes seine Macht entfalten. Die Umkehrung war intensiv. Cale spürte, wie sein Körper sich veränderte, sich Caes’ Erinnerungen an seinen eigenen Körper anpassten. Fingernägel wurden zu Klauen, durch die Haut auf seiner Stirn brach ein mächtiges Hörnerpaar hervor, und Cale hörte das Geräusch, als sich Flügel durch die Membran seiner Haut rissen und sich mit einem lauten Knall entfalteten. Er wollte aufschreien, doch sein Schrei wurde zu einem lauten Brüllen.
Der Engel schien nicht sonderlich von der Verwandlung beeindruckt zu sein. Hier, in diesem Moment in der Hölle, konnte oder wollte er seine eigene Gestalt nicht verbergen. Der Ledermantel war verschwunden. Mit nacktem Oberkörper stand der Himmelsbote vor ihm, und wo sich über Cales Körper lederbedeckte Flügel erstreckten, entfalteten sich auf dem Rücken des Engels zwei mächtige Schwingen. Darunter glommen, wie Trugbilder, weitere Flügelpaare auf. › Verdammt ‹, knurrte Caes mit Cales Stimme, und der fragte trocken in dessen Gedanken: ›Was ist? Wir wollten den Engel doch finden?‹
› Ja, einen Engel ‹, erwiderte Caes und ließ den Mann vor sich nicht aus den Augen. › Aber keinen verdammten Erzengel. ‹
›Was? Woher weißt du das?‹
Caes nickte in Richtung der unscharf erscheinenden Bilder der Flügelpaare. › Zähl seine Flügel. Nur Erzengel haben sechs. ‹
Tatsächlich. Hätte Cale die Macht über seinen Körper gehabt, hätte er jetzt die Zähne zusammengebissen. ›Wir sind ziemlich am Arsch, oder?‹
› Lassen wir es darauf ankommen. ‹ Caes sprang vor, die Klauen ausgestreckt, und griff den Engel an. Mit nahezu träumerischer Miene wich der aus und stieß Caes die Hand in die Seite. Cale spürte stechenden Schmerz und ein leises Knacken. Das war mehr als nur eine Rippe gewesen. Caes wurde durch den Schlag zur Seite geschleudert, doch Cale trieb ihn an, wieder aufzustehen. Zumindest darin waren sie sich einig – keiner von beiden würde sich kampflos das Herz herausreißen lassen.
Cale spürte Caes’ Vorsicht. Der Schlag hatte seine Sinne aufgeweckt, und er griff diesmal nicht an, sondern duckte sich und beobachtete seinen Gegner. Noch immer wirkte der Engel ungerührt. Er warf einen Blick auf die Umgebung. Cale spürte die Hitze dieses Ortes über seine Wange streifen und schüttelte den Kopf.
»Glaubst du, es war eine gute Idee, mich hierherzubringen, kleiner Dämon?«, ertönte plötzlich die Stimme des Engels. Sie war tief und hallte leicht in Cales Ohren nach. Er spürte, dass Caes sich aufrichtete, doch seine Wachsamkeit blieb. »Ich werde es dir so schwer wie möglich machen, unser Herz zu nehmen«, erwiderte Caes mit rauer Stimme.
Der Engel lächelte trocken und stieß sich ab. Staub wirbelte auf, und binnen eines Lidschlags war er direkt vor Cale. Seine Hand presste sich auf dessen Brust, auf die Rune, und Cale spürte heißen Schmerz durch seinen Körper rasen. Innerhalb eines Augenblicks wurde die Umwandlung rückgängig gemacht, und Cale keuchte.
»Hätte ich euer Herz haben wollen, hätte ich es mir schon lange geholt«, erwiderte der Engel kalt.
Cale sah ihm in die Augen. Sie glühten eisig blau. »Und was hält dich ab?«, fragte er und hielt den Blick des Himmelsboten fest.
Für einen Moment schien der Engel tatsächlich antworten zu wollen. Er öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. »Verlass diese Stadt, kleiner Dämon«, sagte er dann, und Cale glaubte so etwas wie Bedauern in seiner Stimme zu hören. »Geh, bevor du und die anderen auch noch ihr Leben verlieren.«
Seine Hand glitt von Cales Hüfte, und er drehte sich um. Sekunden darauf war er verschwunden.
Zoe legte ihre Tasche ab und massierte sich die Schulter. Es war die Hölle, einen Kindergeburtstag fotografieren zu müssen, wenn man die Nacht davor kaum geschlafen hatte. Am liebsten wäre sie wegen der verschwendeten Nacht auf irgendwen wütend, aber wen sollte sie schon für ihre Träume verantwortlich machen?
Sie seufzte und nahm die Tasche wieder auf. Nur noch eine Treppe und sie wäre endlich wieder in ihrer Wohnung. Draußen hörte sie mit einem lauten Rumpeln den Bus vorbeifahren. Pünktlich alle 20 Minuten umrundete er Zoes Gebäude und brachte die Wände zum Beben.
Zoe hatte genug davon. Sie brauchte nur ein bisschen Ruhe, dann würde sie sich wieder um alles andere Gedanken machen können. Allein die Vorstellung
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