Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
eines heißen Bads und dann vielleicht zwei, drei Stunden ungestörter Nachtruhe ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Als sie die Tür allerdings endlich hinter sich geschlossen hatte, verflüchtigte sich der Gedanke an Ruhe und heißes Schaumwasser. Auf dem Flurboden hinter der Tür lag ein brauner, großer Umschlag. Jemand hatte ihn durch den Briefschlitz ihrer Wohnung geworfen, und als Zoe »Charm« auf der Vorderseite las, wusste sie auch, wer dieser Jemand gewesen war.
Sie sah den Umschlag in ihrer Hand minutenlang an und war einfach unfähig, irgendetwas zu denken, geschweige denn, zu tun. Schließlich setzte Zoe sich einfach dort, wo sie stand, mitten auf den Flur. Der Umschlag landete wieder auf dem Boden, und sie vergrub das Gesicht in den Händen. Schluchzen krampfte ihre Kehle zusammen, und sie ließ es zu. Die Tränen kamen, brachen sich Bahn, und Zoe weinte schließlich so laut und so lange, wie sie es nicht mehr getan hatte, seit sie kein kleines Kind mehr war. Es fühlte sich an, als würde ein Damm brechen. Sie hatte ihn viel zu lange in sich gehalten. Dahinter hatten sich ihre Enttäuschung, das Selbstmitleid und der Schmerz viel zu lange verstecken können und hatten zu gären begonnen und waren nach so langer Zeit zu Gift geronnen.
Die Tränen spülten all das endlich hinaus. Zoe scherte sich nicht darum, wer von ihren Nachbarn sie vielleicht hören mochte, sie schrie, schlug gegen Wände und hörte einfach nicht auf zu weinen. Doch es fühlte sich richtig an.
Als der Anfall endlich vorbei war, ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich mit einer Box Kleenex-Tücher auf die Couch. Sie putzte sich die Nase, atmete tief durch und nahm die Akte zur Hand.
Es war eine einfache Büroakte aus gelblicher Pappe, auf deren Rand eine Zahl geschrieben stand. Zoe kannte diese Sortierungsnummern und schlug die Akte auf. Auf dem ersten Blatt standen die wichtigsten Eckdaten, sorgsam von Adrian ausgefüllt. Größe, Gewicht, Augenfarbe. Zoe las den Namen. Cale McLean.
Der Name war nicht außergewöhnlich, auch wenn sie den Traum der letzten Nacht vor ihrem inneren Auge aufblitzen sah. Cale. Ihr Unterbewusstsein hatte sich seinen Namen also schon längst gemerkt.
In der Ecke klebte ein Foto. Es war anscheinend an den Tag aufgenommen worden, als sie ihn in der Polizeiwache getroffen hatte. Sein Gesicht sah so ganz anders als in ihren Träumen aus. Zerschlagen, erschöpft und müde. Nur die Augen ... Zoe musste trocken schlucken. In dem dunklen Braun glaubte sie etwas zu erkennen, was sie auch in der Nacht zuvor gesehen hatte und was sie auf der Wache bereits hatte aufblitzen sehen.
Bevor sie den Gedanken jedoch weiterführen konnte, fiel ihr Blick auf die Adresse. Es war die Adresse der Agentur in Leith. Die gleiche Adresse, an der sie die tote Frau gefunden hatten. Zoe runzelte die Stirn. Warum sollte dieser Mann, Cale, jemanden direkt in seinem Zuhause umbringen? Die Spur würde unweigerlich zu ihm führen, oder nicht? Oder hatte er mit dieser Frau zusammen in der Agentur gelebt, und sie hatten Streit gehabt? Vielleicht war sie sogar seine Geliebte gewesen, und er hatte sie aus Eifersucht umgebracht? Der Gedanke bereitete ihr unerklärlicherweise Unbehagen, so als hätte sich jemand an ihrem Eigentum vergriffen, aber sie schob ihn schnell beiseite. Diese Spekulation war ohnehin Blödsinn. Das erste Opfer war ein Mann gewesen, und mit dem hatte Cale sicher nichts gehabt. Außerdem machten sich Mörder aus Eifersucht bestimmt nicht die Mühe, ihrem Partner das Herz herauszureißen.
Zoe biss auf ihrem Daumennagel herum und versuchte eine Antwort aus dem Foto herauszulesen. Es funktionierte nicht.
Sie putzte sich noch einmal die Nase und blätterte dann weiter. Es war nur noch ein weiteres Blatt in der Akte. Dort stand, dass Cale angegeben hatte, für die Agentur Flesh and Skin tätig zu sein. Darunter war Adrians Bericht über den Tathergang zu lesen. Alles in allem sehr dünne Informationen.
Zoe lehnte sich zurück. Flesh and Skin . Der Name sagte ihr etwas, und sie fuhr rasch ihren Laptop hoch, um ihren Verdacht zu bestätigen. Wenige Klicks später hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte – die Mail von Adrian mit den Infos zum ersten Mord. Das erste Opfer war ebenfalls ein Callboy für diese Agentur gewesen.
Zoe klickte die Suchmaschinenseite an und gab » Flesh and Skin , Edinburgh« ein. Kurz darauf öffnete sich eine edel aufgemachte Homepage, deren Mitte ein Foto zierte. Es war offensichtlich in
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