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Die Schattenseherin: Roman (German Edition)

Die Schattenseherin: Roman (German Edition)

Titel: Die Schattenseherin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Hunter
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zusammentrafen, war eine halb offene Pagode, in deren Inneres eine breite Treppe mit sechs Stufen führte. Sie war aus dem gleichen Material wie auch der Gang.
    Auf der obersten Stufe saß ein Mann und sah ihr entgegen. Sein Blick wirkte offen, neugierig und auch ein wenig freudig. Sein Gesicht war kantig, doch sein Mund war sanft, und die Lippen hatten einen sinnlichen Schwung. Das halblange dunkelbraune Haar fiel ihm in die Stirn, und auf seinen Wangen sah sie einen leichten Bartschatten. Er stand auf, um ihr entgegenzukommen, und Zoe sah, dass seine Kleidung zu ihrer passte. Er trug eine dunkle Hose aus weich aussehendem Stoff und ein rotes Hemd. Kurz vor ihr blieb er stehen. »Hallo, Zoe.«
    So nah vor ihr erkannte sie ihn wieder – und wich erschrocken zurück. »Was willst du hier?«, entfuhr es ihr.
    Er hob leicht die Augenbraue. »Mit so einer Begrüßung hätte ich jetzt nicht gerechnet. Was habe ich dir denn getan?«, fragte er, ehrlich neugierig.
    »Bei unserem letzten Treffen hast du mich auf einer Polizeiwache angefallen.« ›Und außerdem hast du einer unschuldigen Frau das Herz herausgerissen.‹ Der Gedanke war da, doch Zoe sprach ihn nicht aus. Wieso sprach sie ihn nicht aus?
    »Und jetzt glaubst du, ich spaziere in deinen Träumen herum, um das noch einmal zu wiederholen?« Er schmunzelte, und Zoe entspannte sich. Natürlich war das hier nur ein Traum. Irgendwie musste sich ihre Erregung mit ihrer Erinnerung vermischt haben. Seltsam, dass dabei ausgerechnet ein Mörder zu ihrem potenziellen Verführer wurde. Sie musste über sich selbst und ihren Traum lachen. Der Mann grinste. »Na siehst du.«
    Er reichte ihr seine Hand. »Wirst du deinen Angreifer ein wenig begleiten oder brauchst du dabei einen Wachhund?«
    Sie sah auf seine Hand und ergriff sie schließlich. Es war nur ein Traum. Was sollte schon geschehen? Sie konnte jederzeit wieder aufwachen.
    Sein Griff war warm. Er führte sie über die Wiese zu der Pagode. Das Gras fühlte sich seltsam unter Zoes Füßen an. Nicht wie Halme, sondern mehr wie die langen Fasern eines weichen Teppichs. Auch der Himmel über ihnen war ungewohnt. Er war nicht blau, sondern schimmerte rotgolden, wie das Licht in ihrem Zimmer. Die Sonne fehlte, aber das machte nichts. Das Glühen des Himmels spendete genug Licht. Nur die Schatten waren dadurch seltsam: Zoe warf überhaupt keinen, und der Mann – der Mörder – zog etwas Dunkles hinter sich her, das waberte, menschliche Formen annahm, doch dann wieder verschwand. Schaudernd wandte Zoe den Blick davon ab. Sie wollte sich nicht auch noch in ihren Träumen mit dunklen Dingen herumschlagen müssen.
    Sie erreichten die Pagode, und er führte sie hinein. Hier waren es Kerzen mit violetten und gelben Flammen, die das Innere erhellten. Die Pagode wies eine typische sechseckige Form auf, und ihr Innenraum war mit weißen Kissen, Decken und Polstern ausgekleidet. Zoe musste schmunzeln. Einen derartig deutlichen feuchten Traum hatte sie bisher noch nie gehabt.
    »Angenehm?« Der Atem des Mannes streifte ihren bloßen Nacken, und die Hitze brachte die winzigen Härchen auf ihrer Haut dazu, sich aufzurichten. Zoe schauderte, ein sanftes Ziehen breitete sich an ihren Brustspitzen aus und wanderte über ihren Bauch hinab bis zum Unterleib. »Was wäre, wenn ich Nein sage?«, fragte sie und sah neckend über ihre Schulter zu ihm hinauf. Er war einen knappen Kopf größer als sie, aber ihre Körper schienen gut zueinanderzupassen. Im wirklichen Leben wäre sie vor Scham gestorben, wenn sie derart mit irgendwem kokettiert hätte, aber das hier war nicht das richtige Leben. Hier konnte sie tun, was immer sie wollte.
    Er hob seine Hand, und sein Finger wanderte über ihren Handrücken, die Elle hinauf zu ihrem Oberarm, kreiste einmal über ihr rundes Schultergelenk und blieb an ihren Lippen stehen. »Dann würde ich alles tun, damit du es angenehmer findest.«
    Sie lachte und drehte sich um. Er stand im Eingang der Pagode, und seine Gestalt war nur eine schwarze Silhouette vor dem brennenden Himmel. Für einen winzigen Augenblick glaubte Zoe Hörner an seinem Kopf zu sehen, aber der Eindruck verschwand sofort wieder. Sie blinzelte. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie konnte nicht sagen, was. Er kam näher. Sie sah suchend in sein Gesicht und blieb an seinen Augen hängen. Ihre Farbe war ungewöhnlich. Der Grundton war braun, doch dazwischen schimmerten, wie Splitter eines Rubins, rote Funken. Zoe hob die Hand an seine Wange und

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